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Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Mühling
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einer
Buchhandlung in Abakan gefunden hatte. Die Lebensgeschichte des Schriftstellers
war kurz und bizarr. Als »Timur und sein Trupp« erschien, war er 36 Jahre alt.
Anderthalb Jahre später war er tot. Eine Moskauer Zeitung hatte ihn als
Kriegsberichterstatter an die Front geschickt, wo ihn eine deutsche Kugel
erwischte. Hinter ihm lag ein wirres Leben, das mit der Welt seiner
Kinderbücher wenig gemein hatte.
     
    Aus den Erinnerungen des Journalisten Boris Saks: Seine psychische
Erkrankung trieb Gajdar regelmäßig in Heilanstalten … Ich war jung damals,
hatte noch nie Derartiges erlebt, und diese schreckliche Nacht machte einen
entsetzlichen Eindruck auf mich. Gajdar schnitt sich. Mit Rasierklingen. Man
nahm ihm eine Klinge weg, doch sobald man sich umdrehte, schnitt er sich mit
einer anderen. Er schloss sich in der Besenkammer ein, antwortete nicht. Man
brach die Tür auf, wieder hatte er sich geschnitten. Im bewusstlosen Zustand
transportierte man ihn ab, alle Fußböden waren blutverklebt. Ich dachte, er
überlebt das nicht … Später, in Moskau, sah ich ihn einmal in Unterhosen. Die
gesamte Brust und beide Arme waren dicht mit riesigen Narben bedeckt, eine
neben der anderen …
     
    Gajdar kam 1904 zur Welt, in einer Kleinstadt nahe der
ukrainischen Grenze. Geboren wurde er unter dem Namen Arkadij Petrowitsch
Golikow, den er später, als Kinderbuchautor, gegen ein Pseudonym eintauschte.
Seine eigene Kindheit endete früh. Er war zehn, als er von zu Hause ausriss, um
seinem Vater zu folgen, der im Ersten Weltkrieg an die Front geschickt worden
war. Als man Arkadij auflas und zurückschickte, schlug er um sich, er schrie:
Ich will kämpfen!
    In der fünften Klasse endete seine Schullaufbahn. Man schmiss ihn
raus, weil er Mitschüler mit einer geladenen Pistole bedroht hatte. Die
ratlosen Eltern hielten den Dreizehnjährigen nicht auf, als er sich 1917, ein
paar Monate vor der Oktoberrevolution, den Bolschewiken anschloss. Gajdar war
vierzehn, als er in die Rote Armee eintrat. Er war fünfzehn, als er im Kampf
gegen ukrainische Konterrevolutionäre zum ersten Mal verwundet wurde. Er war
sechzehn, als er seine erste eigene Einheit kommandierte.
    Mit siebzehn beförderte man ihn in die »Truppen besonderer
Bestimmung«, ein rotes Elitekommando, das im ausgehenden Bürgerkrieg den
letzten konterrevolutionären Widerstand niederschlug. Als Kommandeur dieser
Einheit wurde Gajdar 1922 nach Chakassien versetzt, mit dem Auftrag, den
Kosakenführer Iwan Solowjow auszuschalten, der sich mit seinen Anhängern in der
Taiga verschanzt hatte. Es war ein Zweikampf, der Gajdars Biografie nachhaltig
prägte. Noch 1940, als er an seinem letzten Kinderbuch arbeitete, schien ihn
der Einsatz in Chakassien zu beschäftigen. »Timur und sein Trupp« schildert den
Kampf zweier Jugendbanden. Ihre Anführer tragen im Buch die Spitznamen
»Kommissar« und »Ataman«. Das eine ist die Rangbezeichnung eines sowjetischen
Eliteoffiziers, das andere der Titel eines Kosakenhauptmanns.
     
    Timur
schnitt Kwakin den Weg ab. Als dieser es bemerkte, blieb er stehen. Sein
breites Gesicht verriet weder Überraschung noch Furcht.
    »Ich grüße dich,
Kommissar«, sagte er leise, den Kopf schief legend. »Wohin so eilig?«
    »Ich grüße dich,
Ataman«, rief Timur, auf Kwakins Ton eingehend. »Dir entgegen.«
     
    Als der rote Kommissar Gajdar 1922 in Chakassien eintraf,
um den Kosaken-Ataman Solowjow aufzuspüren, richtete er sein Stabsquartier in
einem kleinen Dorf im Norden der Region ein. Es war die Siedlung, von der mir
der Chakasse im Zug erzählt hatte: Soljono-Osjornoje.
    Kurz bevor ich das Dorf erreichte, brach im Bus ein merkwürdiger
Streit aus. Auf der hintersten Bank saß ein junger Mann mit einer großen,
braunen Plastikflasche. Er sah mitgenommen aus, wie nach einer durchzechten
Nacht. In regelmäßigen Abständen setzte er die Flasche an, trank einen großen
Schluck Bier und ließ sich stöhnend in den Sitz sinken. Plötzlich bremste der
Bus abrupt.
    »Junger Mann«, rief der Fahrer über die Schulter. »An Bord wird
nicht getrunken.«
    Diesen Satz hörte ich in Russland zum ersten Mal. Auch der Trinker
auf der Rückbank wirkte verblüfft. »Was? Kommen Sie, es war eine harte Nacht,
ich muss den Kater loswerden …«
    »Wenn ich die Flasche noch mal sehe, steigst du aus.«
    Wir fuhren weiter. Erst rührte der Mann sein Bier nicht mehr an.
Dann begann er, nervöse Blicke in Richtung Fahrer zu werfen, um in
unbeobachteten

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