Mein Sanfter Zwilling
Unfällen. Ich erinnere mich sogar daran, dass an jenem Morgen, bevor Frank und ich mit dem Rad Richtung Hafen radelten, Tulja angerufen und von Frank verlangt hatte, nicht mit dem Auto zu fahren und uns warm anzuziehen, was mein Vater auch getan hatte. Mit einem roten Schal, in deren Wolle Gesi auch ihre Schuldgefühle eingestrickt hatte, und mit den Gummistiefeln aus der DDR, die mein Vater für mich hatte mitbringen lassen und die er mir immer, wenn Gesi nicht da war, anzog, radelten wir hin. Ich freute mich auf Ivo, ich freute mich auf den kalten Nachmittag mit Pidy und mit Apfelkuchen, den Emma an solchen kalten Nachmittagen zu backen pflegte. Ich freute mich auf einen gewöhnlichen, vertrauten Tag.
Frank war an dem Tag sehr nachdenklich, und nachdem er eingekauft, Emma gekocht und wir gegessen hatten (es hatte keinen Apfelkuchen gegeben), nachdem Emma aus irgendeinem Grund das einzige erhaltene Foto von mir und Ivo geschossen hatte, gingen sie hoch in ihr Zimmer. Irgendwann, völlig verdreckt und ermüdet, kletterten wir auf unseren Baum hinauf. Ivo zeigte mir den Horizont und sprach über die Schiffe.
Damals wollte er Seemann werden, und ich bettelte ihn immer wieder an, mich mitzunehmen, obwohl er immer wieder sagte, Mädchen dürften nicht auf hohe See. Doch gab ich mich nicht geschlagen und quengelte weiter, in der tiefen Überzeugung, seine Meinung ändern zu können. Ich konnte mir nichts Schöneres vorstellen als solch ein Leben. Mit Gefahren und Walen und Delphinen und Haien, mit Seekrankheit und mit Piraten, die unser Schiff überfielen, das wir dann mit unseren Säbeln und unseren Messern verteidigten. Mit Matrosenmützen und Ferngläsern, mit hohen Wellen unter unseren Füßen und mit endlosem Horizont vor unseren Augen. Unser Traum, an dem wir uns festhielten, in dem wir uns voranwagten, vorankämpften, Ivos und meiner.
Plötzlich hörte ich Motorengeräusche, und kurz darauf bog ein dunkelblauer Mercedes in die Einfahrt und blieb vor dem Gartentor stehen.
Ivos Mund öffnete sich, und seine Lippen formten ein ungläubiges »Papa«, und fast hätte ich mich mit ihm gefreut, über Pidys wildes Gebell, der zum Tor stürmte und davor sitzen blieb, fast wäre ich mit Ivo vom Baum geklettert, um seinen Vater zu begrüßen, und vielleicht hätte ich es wirklich getan, hätte sich sein Gesicht nicht plötzlich in eine verzweifelte Grimasse verwandelt.
Ich klammerte mich an den dicken Ast und hielt den Atem an, machte mich so klein wie möglich, als wollte ich mich verstecken. Ivo hatte sich aufgerichtet und gegen den Baumstamm gepresst. Wie hypnotisiert starrte er nach vorn und wartete darauf, dass sich gleich das Tor öffnete. Die Schlafzimmervorhänge waren zugezogen. Als Pidy anfing zu bellen, wurde einer der Vorhänge ein wenig beiseitegeschoben, und Emma sah aus dem Fenster. Ich hörte gehetzte Schritte auf der Treppe.
Ivo liebte seinen Vater und schwärmte von der Zeit im Sommer, wenn sie zu ihm fuhren und lange Bergwanderungen unternahmen, und obwohl ich bis heute nicht weiß, wer und wie der Mann eigentlich war, wusste ich, dass er Jäger war und einen Jagdschrank besaß, der immer fest verschlossen war.
Die Liebe konnte lügen und betrügen, sie konnte verletzen und hintergehen. Diese Lektion hatte ich in den Monaten im Haus am Hafen recht gut gelernt. Und so hatte ich Angst vor der Liebe dieses Mannes, der gleich das Tor öffnen und hereinkommen würde. Der mir das Recht nehmen würde, Ivo zu sehen. Und so begann ich in den wenigen Augenblicken des Wartens, ihn zu hassen. Ich hasste ihn bereits, bevor er in den Garten kam. Ich hasste ihn für seine Liebe, die mir meine wegnahm.
Ich hörte, wie vorne die Haustür geöffnet wurde, sah dann meinen Vater mit seiner Jacke auf dem Arm durch die Kellertür in den Garten und zum hinteren Ausgang rennen. Emma stand erschrocken, mit einer Hand vor dem Mund, am Treppenabsatz und sah ihm nach, wie er anfing nach mir zu suchen, ohne meinen Namen rufen zu dürfen. Da sah sie hoch, die kleine, zierliche, verwirrte Frau mit den trüben Augen, und winkte uns zu, Ivo und mir. Doch rührten wir uns nicht. Ich hatte Angst vorm Fortgehen und vorm Bleiben auch. Ich hatte auf einmal unermessliche Angst, dass wir nun für immer würden gehen müssen und ich somit gezwungen wäre, auf Ivo zu verzichten, also entschied ich mich zu bleiben.
In den wenigen Sekunden, die zwischen Emmas Blick und Vaters Verschwinden verstrichen, entschied ich mich für Ivo und sah
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