Mein Sanfter Zwilling
in unsere Gläser. Das Telefon läutete, ich sprang auf und begann, es zu suchen. Das verhasste Telefon versprach mir einen Aufschub, gab mir die Möglichkeit, zu entfliehen. Ich fragte mich, warum ich mich wieder so hoffnungslos ausgeliefert fühlte – Ivo, unserer Vergangenheit oder dem, was nun kommen sollte –, aber ich verspürte Erleichterung, im Telefonhörer eine fremde Frauenstimme zu hören.
– Wer spricht da?
Der Name sagte mir nichts.
– Hier ist die Betreuerin von Theos Nachmittagsgruppe. Ich wollte fragen, weil Theo ist nicht abgeholt worden, und montags ist er normalerweise nicht in meiner Gruppe. Da geht er immer zum Fußballtraining, wenn ich mich nicht irre, und da wollte ich einfach …
Und schon wieder hasste ich das Telefon!
– Oh mein Gott! Ich bin in zwanzig Minuten da. Könnten Sie so lange …?
– Ja, sicher, kein Problem.
– Mein Mann und ich, wir haben da was durcheinandergebracht.
Schon wieder log ich.
Ivo war aufgestanden und befasste sich wieder mit den im Regal aufgestellten Familienfotos.
– Ich muss los. Ich muss Theo abholen.
– Das können wir doch zusammen machen.
– Ich glaube, es ist besser, wenn ich allein gehe.
– Doch, klar. Da kann ich ihn kennenlernen.
– Das ist wirklich nicht der passendste Augenblick, Ivo!
Aber er hatte schon sein Glas geleert und seine Lederjacke in die Hand genommen. Ich spürte den Alkohol, den ich tagsüber überhaupt nicht gewohnt war. In meinen Ohren schwirrte es, als wäre ein merkwürdiger Tinnitus ausgebrochen, ich schwitzte.
Wir rannten die Treppen hinunter, ich warf mir im Laufen den Mantel über. Ivo schien entspannt und leicht amüsiert – wie immer.
Als ich versuchte das Auto aufzuschließen und mir der Schlüssel aus der Hand rutschte, gab er mir grinsend ein Zeichen, mich auf den Beifahrersitz zu setzen.
– Lass mich machen, meinte er, und ich gab erleichtert nach. Zum zweiten Mal an dem Tag war ich kurz vor einer Heulattacke.
Er fuhr schnell und selbstsicher, wissend, dass er gerade diese ihm eigene Selbstzufriedenheit ausstrahlte, die mich furchtbar ärgerte und reizte; ich dachte darüber nach, ob er in all seinen Scheißkrisengebieten, wo er für seine ach so wahrhaften und enthüllenden Berichte recherchieren musste, auch so selbstsicher und so lässig wirkte. Ob er in zerbombten Städten und in den mit Leichen übersäten Straßen auch so amüsiert und leger herumspazierte. Seiner selbst sicher und immer ein wenig über anderen stehend, immer seiner selbst ein wenig mehr bewusst als die anderen und immer ein wenig freier, souveräner, undurchschaubarer.
Ich weiß, ich kann mich genau erinnern, wann er damit angefangen hatte. Ich erinnere mich, wie er anfing, die Zigaretten bis auf die Filter zu rauchen, an seinen Nägeln zu kauen und Frauen angriffslustig zu mustern; ich erinnere mich an seinen traurigen Blick, der von anderen immer als herausfordernd verstanden wurde, und ich erinnere mich an seine Notizbücher, die er immer vollschrieb bis an die Ränder, als würde er kleine Anker in den Ozean werfen.
– Jetzt nach links.
Ein paar kurze Anweisungen, das war das Einzige, was ich auf der Fahrt zu Theos Schule herausbrachte.
Er rauchte, obwohl es Marks Auto war und er den Gestank bemerken und sich darüber ärgern würde, aber ich wagte nicht, Ivo darauf aufmerksam zu machen, da ich die ganze Zeit über die »gewollt unspießige Bartheke« nachdenken musste und nicht wollte, dass er mich weiterhin bewertete.
Er hatte das Fenster heruntergekurbelt und blickte sich neugierig wie ein Schuljunge um. Er schien die Stadt wiederzuerkennen oder sie eben nicht mehr zu kennen, sie verwundert zum ersten Mal zu Gesicht zu bekommen – ich konnte es nicht einschätzen.
Ich ließ ihn im Auto warten. Theo saß im Raum der Nachmittagsgruppe im Erdgeschoss und kaute an einer Mohrrübe. Er zog ein beleidigtes Gesicht, schien aber nicht beleidigt genug, um nicht sofort aufzuspringen und auf mich zuzurennen. Ich bedankte mich bei der Betreuerin, versuchte, entspannt und selbstsicher zu wirken, als wäre das Ganze einfach nur ein kleines Missverständnis.
Ich habe lange keine Kinder haben wollen, eigentlich habe ich nie Kinder haben wollen, genau aus dem Grund, weil ich mich der Mutterrolle nicht gewachsen fühlte, und ich spürte lange bevor ich mit Theo schwanger wurde, dass ich, was auch immer ich tun würde, nie gut genug sein würde. Weder für mich noch für mein Kind.
– Wo ist Papa?, fragte Theo und
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