Mein Sanfter Zwilling
steckte den Rest der Mohrrübe in seine Jackentasche. Die anderen Kinder, meist ältere, saßen still da, zeichneten oder machten Hausaufgaben, sie ignorierten Theo. Auch er sagte keinem auf Wiedersehen, außer seiner Betreuerin.
– Ich bin heute dran. Weißt du doch.
– Und wieso hast du dann vergessen, mich abzuholen?
– Ich habe dich nicht vergessen. Ich bin doch hier. Ich habe mich nur verspätet.
– Hast du gearbeitet?
– Nein, ich komme zu spät, weil wir Besuch haben.
– Besuch?
Seine dunkelbraunen Augen begannen zu strahlen, und die Wut über meine Verspätung schien vergessen.
– Ein mir sehr wichtiger Mensch. Ein Familienmitglied. Ich habe dir schon einmal von ihm erzählt, wenn du dich erinnerst.
– Von deiner oder Papas Familie?
– Nein, von meiner Familie.
Ich sagte schon seit Jahren nicht mehr Bruder, wenn ich Ivo meinte. Keiner in unserer Familie sprach von ihm als meinem Bruder. Aber es wunderte mich, dass ich es jetzt zu Theo nicht sagte. Ich versuchte ehrlich und respektvoll mit ihm umzugehen; mit derselben Ernsthaftigkeit, mit der Tulja uns erzogen hatte. Vielleicht hatte es uns die Leichtigkeit geraubt, aber es hatte uns alle drei zu selbstständigen Menschen gemacht.
Wir näherten uns dem Parkplatz, auf dem das Auto stand. Ivo sah aus dem Fenster und rauchte eine neue Zigarette. Er beobachtete uns, ich wusste das, obwohl ich sein Gesicht aus der Ferne noch nicht erkennen konnte.
– Das ist Papas Auto, sagte er, und in dem Moment hätte ich ihn am liebsten geschüttelt dafür, dass er dieses Besitzdenken, diese, wie Tulja sagen würde, kapitalistische Kinderkrankheit so offen zur Schau stellte. Ich war nicht auf vieles stolz aus meiner Kindheit. Vielleicht auf unsere Freiheit, auf Ivo, darauf, dass wir immer besser schwimmen konnten als die anderen, und darauf, dass wir immer alles teilten. Besitz war in unserem Haus verpönt. Marks Kindheit glich meiner nicht mal ansatzweise. Er sah nichts Schlechtes darin, förderte es sogar, dass sein Sohn früh erkannte, worauf er Anspruch hatte.
– Meins ist in der Werkstatt, Liebling, sagte ich und umschloss Theos kleine Hand ein wenig fester. Er versuchte den Griff zu lockern, aber ich ließ es nicht zu, und während wir unsere kleine Machtprobe austrugen, standen wir schon vor dem Wagen. Ivo stieg aus und reichte meinem Sohn die Hand. Theo schaute zu ihm hoch, befreite seine Hand aus meiner und erwiderte den Händedruck.
– Das ist Ivo, Theo, sagte ich und sah die beiden abwartend an. Der Anblick der beiden war befremdlich und verhieß eine kolossale Änderung, die ich keineswegs auf mich zu nehmen bereit war.
– Du hast aber einen komischen Namen, sagte mein sechsjähriger Sohn und stieg ins Auto. Wir haben ein Foto von dir zu Hause.
– Wirklich?
– Ja. Da siehst du aber anders aus. Da hast du die Haare anders.
– Das stimmt wohl. Da waren nicht nur meine Haare anders, glaube ich.
– Was denn noch?
Ich überlegte, dass ich Ivo vielleicht hätte warnen sollen, sich keinesfalls auf Theos Fragen einzulassen, denn sie würden nie ein Ende nehmen. Im Normalfall zeigte Theo kaum Interesse an seiner Umwelt und an seinen Mitmenschen, aber wenn einmal seine Neugier erwacht war, schien sie nicht enden zu wollen. Ich wünschte mir manchmal, dass diese Neugier lenkbar wäre, denn nicht alles, was ihn interessierte, interessierte mich – und umgekehrt.
– Na ja, ich würde sagen: alles.
Theo schien darüber nachzudenken. Ivo sah mich fragend an.
– Wo soll es denn hingehen, meine Herrschaften?, rief Ivo gespielt heiter und sah mich an.
– Erst nach Hause, ich muss mich schnell umziehen, und dann zum Fußball. Ich darf nicht zu spät kommen, verstehst du?, sagte Theo im Befehlston von der Rückbank, und ich erwiderte nichts, nahm seine herrische Art einfach hin und nickte.
Auf der Fahrt hörte Theo nicht auf zu fragen: Wo Ivo denn gewesen sei, warum er uns nicht öfters besucht habe, warum er rauche und dass Papa in seinem Auto eigentlich keine Raucher haben wolle; er erzählte von seinem Fußballtraining und von seinem besten Freund, dessen Vater eine Kaninchenzucht betreibe; erzählte von dem ganz großen Pavillon, in dem sein Vater arbeitete und zu dem er manchmal gehen durfte; er erzählte, dass er Tulja einmal im Armdrücken besiegt habe und dass er Lenis ältesten Sohn doof finde, weil der Mädchen mochte und so eingebildet sei, seit er ein Moped bekommen hatte.
Zu Hause machte ich ihm ein Butterbrot, für etwas
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