Mein Sanfter Zwilling
Warmes reichten meine Fantasie und die Zeit nicht aus, ich war zudem gänzlich von Ivos Anwesenheit in Anspruch genommen und von der Frage, was sein Hiersein für mich bedeutete.
Theo holte den Rest seiner Mohrrübe aus der Tasche und deponierte sie demonstrativ oben auf dem Früchtekorb. Als ich ihm vorschlug, die Mohrrübe wegzuwerfen, weil sie ziemlich unappetitlich aussehe, wurde er wütend und beharrte darauf, es sei seine Mohrrübe, mit der er machen könne, was er wolle. Ivo schien von seinem Einblick in unseren Alltag amüsiert und schaute neugierig mal zu mir, mal zu Theo.
Ich hatte den ununterdrückbaren Wunsch, mich im Schlafzimmer zu verbarrikadieren und bis spät in der Nacht allein gelassen zu werden. Und schon wieder gab ich nach. Die angefressene Mohrrübe blieb auf dem Obst liegen: als Symbol der kapitalistischen Kinderkrankheit, wie Tulja es zu sagen pflegte, als Zeichen meiner Ohnmacht.
Zu dritt fuhren wir im Auto meines Mannes zum Fußballplatz meines Sohnes. Von außen betrachtet schien das Bild zu stimmen, mit einer kleinen Ausnahme: Der Mann stimmte nicht. Der Mann, der hier eigentlich ins Bild gepasst hätte, stand wahrscheinlich gerade im Studio und schnitt einen seiner Dokumentarfilme: mein Mann, der keine blasse Ahnung davon hatte, dass an diesem Morgen unser gesamtes gemeinsam erkämpftes Beisammensein, unser Alltag, unsere Gewohnheiten, unsere Versprechen, unsere Gemeinsamkeiten und Differenzen, unsere Nächte, unsere Urlaubspläne und unsere Feiern, die wir so gerne gemeinsam vorbereiteten und ausrichteten, in Frage gestellt wurden. Und dass ich nichts dagegen tat, sondern im Gegenteil mit einem ausgeliehenen Leben, in einem ausgeliehenen Wagen und mit einem ausgeliehenen Mann zum Fußballplatz fuhr und mich fragte, wie es so schnell passieren konnte, dass sich alles, einfach alles um mich herum so falsch anfühlte. Wie viel riskierte ich für eine vergangene, niemals irgendein Glück verheißende Beziehung zu einem Menschen, für die ich in den sechsunddreißig Jahren, die ich auf der Welt war, keinen Namen gefunden hatte.
3.
An den Rest des Tages erinnere ich mich nur vage.
Irgendwann, nachdem er mich nach Hause und das Auto meines Mannes in die Garage gefahren hatte, verschwand Ivo. Er sagte nur, er habe noch etwas zu erledigen. Ich war wie benebelt, fragte nichts mehr.
Später kam Mark samt Theo, den er vom Fußball, und mit meinem Wagen, den er aus der Werkstatt abgeholt hatte, nach Hause.
Wir aßen Abendbrot, und Mark löcherte mich mit Fragen nach Ivo und was sein plötzliches Auftauchen zu bedeuten habe. Ich denke, er war eifersüchtig, wollte dann mit mir schlafen und sich auf diese Art und Weise vergewissern, dass alles noch beim Alten war. Er wollte eine Bestätigung, und ich gab sie ihm. Ich schlief mit ihm und versuchte anwesend zu wirken.
Als er eingeschlafen war, setzte ich mich auf und betrachtete lange meinen nackten Körper. Ich weiß nicht, warum ich das tat. Ich weiß nicht, welche Art der Bestätigung ich suchte.
Am nächsten Tag brach dann der Wahnsinn los. Plötzlich schien die ganze Familie wieder intakt. Sogar Mutter rief an und wollte wissen, ob Ivo gut angekommen sei und wie unsere Reaktionen auf seine Rückkehr gewesen wären.
Mein Leben ging zu meiner Überraschung ungestört weiter. Ich saß am Laptop, ich fuhr Theo zur Schule, ich telefonierte, ich bemühte mich um Mark.
Am Abend kreuzte meine Schwester in unserer Wohnung auf. Lenis Haare schimmerten in künstlichem, mit Henna gefärbtem Rot, und ihre Tasche quoll über von dem Spielzeug ihres jüngsten Kindes.
Leni hatte ihr Leben lang versucht, ihre, wie sie es nannte, verfehlte Kindheit gutzumachen. Sie hatte Sozialwissenschaften studiert und dann angefangen, Kinderbücher zu schreiben. Der Erfolg ließ auf sich warten, bis sie ihren Mann kennenlernte, der einen Kinderbuchverlag leitete, und seit diesem Moment konnte sie von ihrem Schreiben leben. Sie begann, sich von Tulja abzuwenden, für die sie sich immer mehr zu schämen schien. Sie bekam drei Kinder und zog in eine noble Villengegend. Ihre neue Rolle spielte sie perfekt: Bei allen Zusammenkünften erklärte sie den Familienmitgliedern und anderen anwesenden Personen, wie man Kinder erzieht, wie man die Welt kindgerecht umgestalten sollte, wie man Kinderbücher schreibt. Als sei das eigentliche Ziel unseres Lebens Kinderkriegen, Kindererziehen und Kinderbuchschreiben.
Ich habe mich wohl nur deshalb von Leni nie wirklich gelöst, weil
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