Mein Schutzengel ist ein Anfaenger
spirituell, emotional – alles an einem wäre doch eigentlich großartig. Mögliche Kritikpunkte werden in Lob übersetzt. Wer sich beispielsweise zu dick fühlt, sage zu seinem Spiegelbild nicht: Mensch, bist du fett, sondern: Ich danke meinem Körper, dass er zwischen mich und die Dinge, die ich fürchte, eine schützende Polsterung geschaffen hat. – Damit immer noch nicht genug. Alle fünf Minuten verkünde man laut: » Ich bin brillant, ich bin toll, ich bin der Schöpfer meiner eigenen Existenz. Alles, was ich bin, habe ich befohlen, alles, was ich bin, ist Liebe.« – Sechsmal pro Sitzung. Und wer trotz dieser Dauerwerbesendung an sich rumkritisiert, fängt mit den 32 Minuten wieder von vorne an, um jede Zelle des Körpers in Lob zu baden. Was diese in Form von Glück zurückgeben werden.
Max scrollt weiter durch die Datei auf der Suche nach dem Haken. Glücksversprechen haben schließlich immer einen. Da, endlich, auf der letzten Seite versteckt! Der » Special bonus«. Nach einer Woche möge man dem Autor die ersten Erfahrungen schreiben. Wer einen Monat durchhält, bekommt von ihm eine noch bessere Methode geschenkt, die Zugänge zu Telepathie eröffnet. Wer darauf nicht warten kann, braucht nur die E-Mail-Adressen von zehn Freunden weiterleiten, damit auch diese mit der Bliss Method vertraut gemacht werden können. Im Gegenzug erhält man den kostbaren Link dann sofort.
Max überlegt, wen er damit ärgern könnte. Tom vielleicht? Aber der würde das nur als Angriff auf sein eigenes Unglück missverstehen.
Als er Sylvia antwortet, erwähnt er die Bliss Method absichtlich mit keinem Wort. Ihm ist das zu abgeschmackt. Geht es nicht eine Nummer kleiner? Glück ist einfach zu groß und viel zu bröselig, um nach Rezept hergestellt zu werden. Eine von den Frauenzeitungshochstapeleien wie die ewige Liebe oder die perfekte Figur. Glück riecht immer nach Geschäftemacherei. – Nein, Max sucht etwas anderes, kein allumspannendes Glückseligkeitsversprechen, sondern – vielleicht einfach nur ein bisschen Trost, wie Kollege Hiob. Das klingt wie » ein bisschen Frieden«. Aber besser als gar nichts. Trost also.
Trotz aller Vorbehalte möchte Max das mit dem militant positiven Denken wenigstens einmal ausprobieren. Ohne Spiegel und ohne sich komplett toll zu finden. Vielleicht reicht für seinen Schmalspurtrost ja schon, jeden negativen Gedanken ins Positive zu wenden.
Mit den Schuhen beginnt er: Ob es ihm wohl ohne zu schimpfen gelingt, seine aufgequollenen Füße hineinzustopfen? Vielleicht so: Es ist schön, dass meine Füße mich täglich daran erinnern, kein Aschenputtel zu sein. – Na ja.
Max zieht die Jacke an, greift nach dem schwarzen Gehstock und schiebt mit der anderen Hand den Rollstuhl bis zur Haustür. Sie klemmt mal wieder. Sofort übersetzt er: Die Haustür möchte mir zeigen, wie ungern sie mich gehen lässt. – Schon nach wenigen Minuten fällt es angenehm leicht, sich alles schönzureden.
Er reißt die Tür beherzt auf und schubst den Rollstuhl die beiden Stufen hinunter. Zu heftig jedoch, so dass er ihn nicht mehr packen kann, nur noch zusehen, wie er über den abschüssigen Bürgersteig rollt, an der Bordsteinkante kurz strauchelt und sich dann hinunterstürzt. Es braucht ein paar Sekunden, bis Max, statt zu fluchen, laut sagt: » Max, das hast du toll gemacht, du lässt selbst deinem Rollstuhl genug Freiheit.«
Klingt gar nicht schlecht. Wenn du es schaffst, das nicht nur in deinen Dreitagebart zu nuscheln, kann diese Therapie immerhin witzig werden.
Während Max, auf der Stufe zum Bürgersteig sitzend, auf den nächsten Passanten wartet, denkt er darüber nach, was er aus der Situation lernen, wie sie ihn trösten würde, wie er daran wachsen könnte. Es fällt ihm nichts ein.
Also bricht er den Versuch mit dem positiven Denken ab. Da hat er doch den Beweis: Selbst Trost ist nichts für ihn.
Schade.
Genau in dem Moment biegt ein junger Türke um die Ecke. Mit einem Blick erfasst er die Situation. Das Handy weiterhin am Ohr schiebt er den Rollstuhl vor Max und hilft ihm beim Aufstehen. Erst als Max sicher sitzt und den Gehstock hinter sich verstaut hat, verschwindet sein Retter, ohne sein Telefonat unterbrochen zu haben.
Das mit dem Glück muss Max also anders hinbekommen. Wieder einmal fällt ihm eine der Kettenraucherinnen in der Klinik ein. Ihr geht es besser, wenn sie vor dem Einschlafen einen Schluck von ihrem Heilungscocktail trinkt: Wodka, in dem nicht zu knapp Marihuana
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