Mein Schutzengel ist ein Anfaenger
mit ihm befreundet. Sie war es auch, die das Treffen arrangiert hat, um die Ballettkarriere von Max anzukurbeln.
Im Vorübergehen raunt Tomas einem Eleven auf Französisch zu, doch bitte Max zu helfen. Der nickt und schiebt ihn die beiden Schienen auf der rechten Seite der Treppe hoch. Dies geschieht mit einer so fließenden Selbstverständlichkeit, wie es Max noch nie erlebt hat.
Nach dem Lift übernimmt Tomas die Führung durch verwinkelte Gänge. Immer wieder sind Stufen zu überwinden. Doch wie von Zauberhand herbeigewunken, biegen immer genau im richtigen Moment muskulöse Tänzer in flattrigen T-Shirts um die Ecke und stützen oder tragen Max sicher in den Saal, wo sie ihn auf einem Stuhl absetzen.
Das lauteste Geräusch entsteht, als die Pianistin ihre riesige Sonnenbrille auf den Deckel des Flügels fallen lässt und mit einem slawischen Seufzer auf den Hocker gleitet. Sonst fällt kein Wort. Konzentriert steht ein knappes Dutzend junger Tänzer vor den Stangen an den beiden verspiegelten Stirnseiten, sich unermüdlich dehnend und streckend.
Tomas klatscht einmal in die Hände, stellt den Gast als Freund des Balletts vor und beginnt mit dem Training. Soviel geballten Willen hat Max noch nie in einem Raum gespürt, eine fast andächtige Konzentration. Niemand schummelt, kürzt ab oder drückt sich sonstwie, wie er es aus dem Sportunterricht in Erinnerung hat. In jeder Sekunde ist zu spüren, wie weit der Weg war, den die Schüler bis hierher bereits zurückgelegt haben. Und wie weit der vor ihnen noch sein wird. Sie stammen aus der ganzen Welt, von allen Kontinenten. Die einzige Sprache, die alle verstehen, ist die des Tanzes und eine Abart des Englischen.
Nach jeder Übung überrascht Max erneut, wie viel Kraft es selbst sie kostet. Selbst diese federleichten Dinger schwitzen, ringen nach Atem, halten sich mit letzter Kraft fest. Und kaum sind sie wieder dran, scheint alle Erschöpfung wie weggeblasen.
» Sie müssen den Schmerz lesen lernen«, flüstert Tomas ihm zu. Ballett habe viel mit Haltung zu tun, aber noch viel mehr mit Zivilisation. An den Fürstenhöfen wurde getanzt, um sich nicht die Köpfe einzuschlagen. Aus dieser Haltung entstand das Ganze, als eine alternative Form der Auseinandersetzung.
Nachdem er sie ein Dutzend Mal diagonal durch den Raum hat springen lassen, versammelt er mit einem Wink seine Schüler um sich.
» Jeder von euch hat ein schwaches Bein oder ein zu kurzes. Das ist so. Aber ich möchte sehen, dass ihr auch mit dem schwachen Bein mit dergleichen Intensität abspringt. Das Publikum sieht da hin, wo ihr die Aufmerksamkeit hinlenkt. Und wenn ihr euer schwaches Bein absichtlich verbergt, dann wird das Publikum genau das sehen.«
Max bildet sich ein, dass er der Einzige im Saal ist, der mit dieser Anweisung etwas anfangen kann. Den Schülern geht es eindeutig darum, dass das schwache Bein genauso stark wird wie das andere. Sie werden das notfalls bis zum Umfallen trainieren.
Am Ende der Stunde, die Eleven stehen schon mit um den Hals geschlungenen Handtüchern und Wasserflaschen leise schwätzend im Raum, beginnt Tomas plötzlich, ohne die Stimme zu erheben, eine Predigt: » Ihr Lieben, euer Körper ist das eine, den könnt ihr trainieren, bis ihr umfallt. Aber ihr werdet nie hervorragende Tänzer, wenn euch eines fehlt: Respekt vor dem anderen.«
Max folgt ihm gebannt. Die Tänzer geben nicht zu erkennen, ob sie Tomas überhaupt zuhören.
» Ihr könnt nicht nur Solos tanzen. Ihr braucht einander. Ohne Nächstenliebe kein Corps de Ballet. Die anderen müssen in eurem eigenen Interesse liegen.«
Nach dem Training kann Max nicht besser gehen. Die Leichtigkeit wie nach dem Fußballspiel bleibt aus. Im Gegenteil, das lange Sitzen hat seine Beine komplett erstarren lassen, vielleicht auch die Hochachtung vor der Beweglichkeit der Tänzer. Er braucht drei endlose Minuten, um seine Schuhe wieder anzuziehen. Das Blut steigt ihm in den Kopf. Völlig ruhig sieht Tomas ihm dabei zu, neben ihm ein blonder Tänzer aus Kasachstan, beide ohne jedes Zeichen von Ungeduld. Sie beobachten, wie er sich müht, seinen geschwollenen Fuß in den ausgetretenen schwarzen Lederschuh zu quetschen. Die Schleife zu binden. Diegleiche Prozedur beim anderen Fuß. Sehen mit demgleichen leidenschaftslosen Interesse zu wie er vorher dem Training. Dann helfen sie ihm zum Lift zurück. Als Max sich bei den Stufen auf die Schulter des Tänzers stützt, entschuldigt dieser sich für sein schweißnasses
Weitere Kostenlose Bücher