Mein Schutzengel ist ein Anfaenger
an der offenen Schlafzimmertür vorbeikommen, merkt er, dass sie beim Anblick des Rollstuhls einen Moment zögert. Nur ganz kurz, dann geht sie weiter. Max hofft, dass er wenigstens am Tag des Fußballwunders um den Krankheitsverlauf herumkommt. Aber Hannah ist ganz woanders.
» Einmal hatte ich auch für einen Monat Krücken. Einmal in zwanzig Jahren auf der Bühne.«
» Bist du gestürzt?«
Hannah nickt. » Stürzen ist erniedrigend. Aber noch schlimmer, als zu stürzen, ist es, wieder hochzukommen. Am Schlimmsten ist dieser Moment, wenn es dich malerisch hingehauen hat mitten in einem Pas de deux, und du liegst am Boden und weißt, jetzt starren dich zweitausend Leute an, da fühlst du dich völlig gelähmt. Du darfst in so einem Moment auf keinen Fall darüber nachdenken. Sonst kommst du nie mehr hoch. Dann hat es dich gepackt. Die Kollegen, die merken sich nicht, dass du gestürzt bist, sondern wie lange du gebraucht hast, bis du weitertanzt.«
Max lässt sich ächzend auf den Küchenstuhl sinken. Die Wirkung des Fußballwunders verblasst bereits, nicht aber die Erinnerung daran. Die erfüllt ihn immer noch mit Freude.
» Dann ist unter Schmerzen zu tanzen immer noch besser, als gar nicht zu tanzen, oder?«, fragt Max. » Ist das nicht eine unheimliche Drohung, dieses Wissen, dass es irgendwann unweigerlich vorbei ist mit dem Ballett?«
» Das haben wir einfach verdrängt. Komplett verdrängt. Wir waren ja all die Jahre so jung, und es gab noch so viel zu erreichen, und vor allem: Wir waren alle so weit weg von der erträumten Perfektion. Da verschwendest du keinen Gedanken daran, dass irgendwann Schluss ist mit dem Training am Morgen, Schluss mit dem stundenlangen Nähen von Spitzenschuhen. Ich habe es selbst am Ende nicht wahrhaben wollen. Mein Ballettdirektor hat es als Erster gemerkt und eines Tages den Vertrag nicht mehr verlängert.«
Es klingt wie ein Märchen aus vergangenen Zeiten. Dabei liegt alles erst wenige Jahre zurück. Um sie abzulenken, berichtet Max von seinem Wunder.
Hannah klatscht begeistert in die Hände. » Mein Süßer, natürlich ist Fußball keine Lösung. Lass mich mal ein bisschen das Köpfchen zerbrechen. Mir fällt da schon was ein. Hauptsache, du unternimmst etwas, und die Dinge kommen in Fluss. Ob mit Gesang oder Ballett, ist egal, Hauptsache, kein Fußball! Das passt einfach nicht zu dir. Und passen muss es.«
Nun bin ich wirklich erleichtert. Ich habe mich schon stundenlang irgendwelchen Fußballern nachrennen sehen, damit sie nicht über deinen Rollstuhl stolpern. Manchmal ist dieses Kunst-Zeugs echt die bessere Lösung.
Max nickt artig. Aber etwas möchte Hannah ihm doch noch mitgeben, in Sachen Ballett. Eine Lektion, die sie nie vergessen würde. Vielleicht auch eine für ihn und seine Karriere.
» Egal, ob du ’ne Vorstellung vergeigt hast, oder ob ’ne Kombination nicht geklappt hat, du weißt immer: Morgen um zehn ist wieder Training. Wie jeden Tag, seit du denken kannst. Und was heute war, ist Vergangenheit. Anderthalb Stunden. Von zehn Uhr bis elf Uhr dreißig, pünktlich. Da geht es an die Stange, und du machst deine Übungen. Und fängst wieder von vorne an. Das ist der größte Trost für mich im Leben, dass man jeden Tag diese Chance hat.«
14.
Nicht wen i ge Menschen führt die Suche nach Glück auf Abw e ge, andere schlafen darüber ein.
Sylvia hat Max ein PDF -Dokument gemailt mit der dringenden Bitte, es sich wenigstens einmal anzuschauen. Denn für das vollkommene Glück bräuchte er nicht einmal einen Heiler, sondern nur einen Spiegel – mit der Bliss Method.
Wer sie täglich anwendet, so beginnt der Text, wird nach genau neun Monaten und 29 Tagen ein frisch geborener, neuer Mensch sein, und so glückselig, dass Max ein Schauder des Zweifels überläuft. Die Wirklichkeit ist immer mühsamer, als die meisten Ratgeberautoren zugeben würden.
Aufgabe sei, so der amerikanische Autor, einen verkümmerten Muskel zu trainieren: den der Selbstachtung. Benötigt würde dafür, wie Sylvia bereits angekündigt hat, nur ein Spiegel, möglichst groß allerdings. Vor diesen solle man sich jeden Tag stellen. Komplett nackt, und zwar genau 32 Minuten lang. Wer den Anblick nicht ertrage, könne fürs Erste die Augen geschlossen lassen oder sich nur auf das Gesicht im Spiegel konzentrieren.
Aber damit nicht genug. Wenn man dann so vor sich stünde, müsse man sich selbst ohne Rücksicht auf Glaubwürdigkeit schmeicheln, auf allen Ebenen: körperlich,
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