Mein Schutzengel ist ein Anfaenger
aufstehen. Doch als sich Max zu ihm an den Tisch setzt, bestellt er noch ein Bier. Nach dem ersten Zug seufzt er lauf auf. Max weiß, ohne hinzuschauen, dass der Mann unbedingt mit ihm ins Gespräch kommen möchte.
Ohne sich von seiner Einsilbigkeit abschrecken zu lassen, kitzelt er den Grund für den Rollstuhl aus Max heraus. Und schon geht es los. Er hat nur einen Aufhänger für sein eigenes Leid gebraucht. Max kennt so etwas: Viele überspringen die Mitleidsbekundungen und gehen gleich zu ihren Krankheiten über. In diesem Fall vier Bandscheibenvorfälle in Folge. Max nickt routiniert wie ein Orthopäde. Das müsse ordentlich wehgetan haben.
» Ja, schon«, sagt der Mann, wieder seufzend, » aber das ist noch nicht das Schlimmste.« Er nimmt einen Schluck Bier und beugt sich zu Max. » Denkst du auch so oft an die Endlichkeit? Wenn man da einmal drin ist, in solchen Gedanken, kommt man nicht mehr aus.«
Ja, an die Endlichkeit seines Körpers würde er täglich erinnert, gesteht Max. Aber was ist das schon im Vergleich zu fünf familiären Todesfällen innerhalb eines halben Jahres, einem mehr als die Bandscheiben. Zuerst die Mutter, kurz danach die Schwiegermutter, beide kurz vor ihrem Neunzigsten. Verrückt, nicht wahr? Die letzten Stunden der Mutter, da wäre doch so etwas wie Erlösung zu spüren gewesen. Wie sie noch einmal aus der Umnachtung erwachte, ganz klar und rein, auch die Augen, und zu ihm gewandt gesagt hätte: » Schön, dass du auch da bist.« – Der Mann hält die Tränen nicht mehr zurück. Sie laufen über die rot geäderten Backen in seinen Vollbart.
Max überlegt fieberhaft, was er sagen könnte, ein Wort des Trostes. Aber das meiste geht ja doch schief. Auf Krankheiten ist er eingestellt, auf Behinderungen sowieso, aber nicht auf Trauerverzweiflung. Bei den Krankheiten reicht es meist, Lebensfreude zu dokumentieren. Hauptsache, das Gegenüber kann sich mit ihm vergleichen und schneidet dabei gut ab. Gegen den Tod aber kommt selbst ein Rollstuhl nicht an.
Plötzlich steht Tom, wie Jesus auf manchen Bildern, hinter dem weinenden Mann. Der dreht sich schniefend um und schiebt Tom einen Stuhl hin. Max unternimmt nichts, um bei seinem Freund den Eindruck zu zerstreuen, der Trauernde wäre ein alter Bekannter.
Dieser spricht einfach weiter und berichtet nun vom Sterben der Schwiegermutter. Max beobachtet dabei Tom, der dem Mann interessiert zuhört. Allmählich wird ihm klar, dass der Mann nicht zwangsläufig getröstet werden will. Ihm reicht vollkommen, wenn ihm jemand zuhört, wenn er sein Leid umpacken kann, von der rechten auf die linke Schulter. Getröstetwerden würde ja einschließen, zumindest auf ein kleines Stück Trauer verzichten zu können. Das möchte der Mann auf keinen Fall. Sie ist ihm viel zu teuer und hilft ihm über die Schmerzen wegen der Bandscheibenvorfälle und vieles andere hinweg. Sie ist Teil seines Lebens, ein Stück Existenzberechtigung sogar. Nun, wo seine Familie fast ausgelöscht ist.
Am Ende der Geschichte ist sein Bierglas leer. Mit Handschlag verabschiedet er sich. Kaum ist er weg, lacht Tom hustend. Noch so eine Art, sich den Tod vom Leib zu halten, denkt Max.
Tom grinst. » Ich habe schon gedacht, sie stirbt gar nicht.«
» Dabei hast du nur den Bonus-Track gehört.«
Nun lachen beide, bis sich die merkwürdige Stimmung aufgelöst hat.
Unvermittelt wird Tom ernst. » Hast du gesehen, wie er geweint hat? Hier, mitten in der Kneipe, vor allen Leuten? Eine Viertelstunde vor dem Deutschlandspiel.«
Max fragt sich, worauf er hinaus möchte.
» Ich bin so unglaublich neidisch auf Leute wie ihn. Was würde ich nicht darum geben, auch einfach weinen zu können. Bei mir ist alles vertrocknet, wie in der Wüste. Das muss unglaublich tröstlich sein. Ich kann mir nichts Heilenderes vorstellen als Tränen.«
Max sieht sich sofort tränenüberströmt auf Margots Liege, in der Andachtskapelle … Schlechtes Gewissen wegen seiner leichten Rührbarkeit überfällt ihn.
Plötzlich erfüllt Stadionlärm den Raum. Die Übertragung des Fußballländerspiels hat begonnen. Nun denkt niemand mehr an die Endlichkeit. Am allerwenigsten die Fußballer. Der Trainer behauptet in einem Interview mit der ganzen ihm zur Verfügung stehenden Einfältigkeit, dass die Mannschaft heiß auf den Sieg sei.
Bis auf Max und Tom applaudieren alle Gäste in der Kneipe. Die beiden sinnen noch den ungeweinten Tränen nach, bis das Spiel angepfiffen wird.
Es sieht gut aus für den
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