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Mein Schutzengel ist ein Anfaenger

Mein Schutzengel ist ein Anfaenger

Titel: Mein Schutzengel ist ein Anfaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maximilian Dorner
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T-Shirt.
    In der Kantine erklärt Tomas ihm, dass am Vortag bei einem Sprung zwei Tänzer in der Luft zusammengestoßen seien, was einen heftigen Streit ausgelöst habe. Auf den wollte er mit seiner Predigt für mehr Nächstenliebe reagieren. Denn nur, wer seine Individualität im Griff habe, könne in der Gruppe bestehen.
    Dreimal erkundigt sich Max, wie Tänzer mit der ständigen Demütigung umgehen würden, etwas nicht zu können. Dreimal bekommt er keine Antwort. Bis er einsieht, dass die Frage falsch gestellt war. Beim vierten Mal fragt er einfach: » Was treibt sie an?«
    » Das Wissen, dass sie morgen besser sein können. Deswegen müssen sie wachsam bleiben. Aus den Intelligenten unter ihnen kann noch etwas werden. Dies setzt aber die Begabung voraus, lernen zu wollen, schnell zu lernen. Und Neugier. Die Intelligenten verplempern ihre Freizeit nicht, indem sie dauernd zusammenhängen. Die anderen haben ein Problem mit der Langeweile, deswegen halten sie es nicht mit sich aus.«
    Max kommt aus dem Nicken gar nicht mehr heraus.
    Warum hat Tomas dir nicht erzählt, was ihm während des Trainings eingefallen war? Während der Sprungübungen tauchte plötzlich das Bild des Jungen mit den Krücken vor ihm auf. Dreißig Jahre musste das inzwischen her sein. Der Junge wäre jetzt ungefähr gleich alt wie dieser Max … Was wohl aus dem geworden ist?
    Da Tomas geschwiegen hat, erzähle ich es dir.
    Während seiner Zeit als Direktor einer berühmten Ballettschule brachte man Tomas einmal einen sehr kranken Jungen in den Übungssaal. Der konnte kaum atmen, weil ein Korsett ihm die Luft abschnürte. Ohne das aber hätte er sich überhaupt nicht aufrichten können. Zwei Stahlstäbe wollten sie dem Kleinen in den Rücken operieren, die ganze Sache war überaus gefährlich. Und keiner wollte seine Hand dafür ins Feuer legen, dass der Eingriff ihm wirklich helfen würde.
    In ihrer Not flehte die Mutter Tomas an, etwas zu tun. Irgendetwas. Wer, wenn nicht er, der berühmte Ballettmeister? Er antwortete ihr, dass er kein Heiler wäre, nur ein Tänzer und Pädagoge. Aber die Mutter ließ sich nicht abwimmeln. Also willigte er ein, aber nur, wenn der Arzt des Jungen mit dabei wäre.
    Bei der ersten Stunde bat Tomas den Kleinen, sich auf eine Matte am Boden zu legen. Er lockerte das Korsett, nahm es ab und betastete dessen Muskeln. Mit ein paar Kniffen versuchte er, sie zu aktivieren. Schließlich bat er den Jungen aufzustehen, ganz langsam, in seinem eigenen Tempo. Und irgendwann, zur Überraschung aller, stand der Junge. Mit auf dem Boden gesenkten Blick.
    Da sagte Tomas zu ihm: » Wenn du möchtest, dass ich dich unterrichte, musst du mir in die Augen sehen.« Die Mutter schüttelte den Kopf: Unmöglich, dass ihr Sohn zu ihm hochsehen könnte. Doch er hob Stückchen für Stückchen den Kopf, bis er Tomas ansah.
    Von einer Operation war später nie mehr die Rede.
    Wenn man etwas wirklich will, bekommt man es auch. Das ist nach wie vor das Credo von Tomas, gültig im Ballett wie im Leben. Natürlich würde der Junge sein Leben lang etwas tun müssen. Jeden Tag üben und am nächsten Tag noch mehr üben. Aber solange er mit sich kämpft, wird er nicht verlieren, weiß Tomas.
    Aus Sorge, dass diese Geschichte für dich zu kitschig wäre, hat er sie dir nicht erzählt. Vielleicht, hat er sich überlegt, ist sie sogar beleidigend, weil ein Mann im Rollstuhl keine Chancen hat, jemals zu stehen.
    Nur du kannst herausfinden, ob das stimmt.

16.
    Kaum ein Mensch merkt, wenn er einige Augenblicke la n g schwebt.
    Seiner bodenständigen Freundin Monika nimmt Max alles ab, selbst ihr Schwärmen über Karl, den Handaufleger. Karl? – Irgendwie kommt Max der Name bekannt vor. Er kann sich nur nicht erinnern, in welchem Zusammenhang er ihm schon einmal begegnet ist. Karl …
    » Der hat so rein gar nichts Heilermäßiges an sich«, erklärt Monika. » Bis auf seine Kräfte. Und dann praktiziert er auch in einer edlen Praxis, ohne Räucherstäbchen und Walle-Walle. Das würde ich keine Sekunde ertragen. Seit dem Klosterinternat reagiere ich allergisch auf alles Spirituelle. Sonst würde ich dir auch gar nicht von Karl erzählen. Du bekommst ja sicherlich so viele Spezialisten empfohlen, dass du mittlerweile jeden im Umkreis von fünfhundert Kilometern beim Vornamen kennst.«
    Max nickt und unterstreicht die Telefonnummer auf dem Blatt aus Monikas Notizbuch.
    » Du, mit meinem Tinnitus war das genauso«, fährt Monika fort. » Jeder kennt

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