Mein schwacher Wille geschehe
weitgehend enthalten«, sagt Passig. »Mich stört das stereotype Zurückführen von allem auf persönliche Unzulänglichkeiten. Das nervt mich auch an der umfangreichen Ratgeberliteratur. Es ist nun einmal so, dass Menschen im Dunkeln schlechter sehen. Das hat dazu geführt, dass Autos Scheinwerfer haben und an den Straßen Laternen aufgereiht sind. Die Ratgeber aber rufen den Leuten zu: Übt doch einfach mal, im Dunkeln besser zu sehen. Wenn 80 Prozent der Bevölkerung an ein und derselben Aufgabe scheitern, dann kann man das nicht mehr auf individuelle Unzulänglichkeiten zurückführen.« Die Fähigkeiten zur Selbstverbesserung seien ohnehin sehr begrenzt.
|26| Die Sache mit dem Pappkarton
Little boxes on the hillside,
Little boxes made of ticky-tacky,
Little boxes, little boxes,
Little boxes, all the same.
There’s a green one and a pink one
And a blue one and a yellow one
And they’re all made out of ticky-tacky
And they all look just the same.
Malvina Reynolds
In der Frankfurter Innenstadt befindet sich in der Nähe der Hauptwache ein Einzelhandelsgeschäft mit dem schönen Namen »Ordnungssinn«. Zu dessen umfangreichem Warenangebot gehört allerlei Nützliches, das einem das Navigieren durch den eigenen Haushalt erleichtern soll. Man bekommt dort Regalstützen, Türstopper und Leselampen, die man am Buchrücken festklemmen kann. Rätselhaft ist zwar, wie man in einem derart beschwerten Buch bei fortschreitender Ermüdung lesen soll, aber das schicke Lampendesign erstickt derlei Nörgelei rascher, als man vorm Schlafengehen das Licht ausknipsen kann. Auch die Sammlung kleiner Helfer bei »Ordnungssinn« kann sich sehen lassen. Es gibt kaum ein Haushaltsproblem, für das der Laden nicht einen formschönen Lösungsvorschlag bereithält. Für alles, was einem das Leben bisweilen schwer zu machen droht, werden Hefter und Post-its, Klebesysteme, Hängeregister, Schachteln und Dosen in verschiedenen Größen angeboten. Die Palette industriell gefertigter Ordnungshilfen ist unerschöpflich und lässt den Bedürftigen in der Unübersichtlichkeit haushalterischer Tätigkeiten nicht im Stich. Es gibt immer etwas wegzulegen.
Vor ein paar Jahren im Herbst (vielleicht lag es an den fallenden |27| Blättern in den Taunuswäldern) bin ich dort hingegangen, um mich mit Folien, Klarsichthüllen, Beschriftungsgeräten, Kladden und Ablagesystemen einzudecken. Ich war früh dran, denn ich hatte den Antrag auf eine zweite Fristverlängerung für die Einkommenssteuer gerade erst vom Finanzamt genehmigt bekommen. Zumindest war diese nicht, wie zuvor schon einmal geschehen, kurzfristig widerrufen worden, was ökonomisch wie seelisch einiges Unheil angerichtet hatte. Genügend Zeit also. Alles unter Kontrolle.
Ich gehöre zu der Sorte von Menschen, denen der Gedanke an den Kontakt mit den Finanzbehörden Unbehagen bereitet. Genauer ist es nicht zu sagen. Rationale Begründungen sind für diese sonderbare Gestimmtheit, in der ich viele Leidensgenossen hinter mir weiß, nicht zur Hand. Jedenfalls hat dieses Gefühl nichts damit zu tun, dass wissentlich fiskalische Leichen im Keller lagern würden. Nach allem, was ich so weiß, habe ich mir stets Mühe gegeben, auch in solchen Dingen ein rechtschaffener Bürger zu sein. Komplizierte steuerliche Konstruktionen meide ich aus Prinzip, und das Wort »abschreiben« ist für mich ein Synonym für: vergessen; auf sich bewenden lassen; etwas aufgegeben haben. Wie Steuerabschreibungen funktionieren und warum dazu mehrere Jahre vonnöten sind, entzieht sich meiner Kenntnis. Doch pünktlich, wenn die Fristen drohen überschritten zu werden, lasten dunkle Schatten auf der Seele. Das träge Ich, das den Kalender zu lesen versteht, beginnt sich an solchen Tagen zu wappnen. Morgen, spätestens Übermorgen, soll die Sache angegangen werden. Und wenn der Beschluss, Ordnung zu schaffen, nicht nur gefasst, sondern durch ein sichtbares Zeichen, zum Beispiel eine Klarsichthülle, auf den Weg gebracht worden ist, geht man gleich etwas leichter des Wegs. Es gibt immer wieder hoffnungsvolle Anfänge, sogar im Umgang mit der Steuererklärung. Hatte am Tag des Einkaufs bei »Ordnungssinn« nicht sogar die Sonne geschienen? Es gibt ihn, den
indian summer
der Steuererklärung.
|28| Von den drei farbigen Markern, die ich mir damals zugelegt habe, habe ich einen wiederholt beim Lesen von fotokopierten Zeitungsartikeln benutzt. Zwar habe ich schon zu meiner Schulzeit nie so recht begriffen, warum man
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