Mein Tag ist deine Nacht
Kanzlei. Claras Stuhl war unbesetzt, und ich nahm an, dass sie schon zum Mittagessen gegangen sei. Mit schnellen, wütenden Schritten ging ich heim, betrat die Wohnung und bückte mich, um Frankie zu liebkosen, die – wie immer – entzückt war, mich zu sehen. Während sie draußen auf dem Rasen herumtollte, stellte ich den Wasserkessel für eine Tasse Tee auf und durchstöberte den Kühlschrank nach etwas Essbarem. Stephen hatte mich nicht einmal aus seinem Büro gehen lassen, als die Sandwich-Verkäuferin kam.
Sobald ich gegessen und meinen Tee getrunken hatte, führte ich Frankie aus und beeilte mich dann, in die Kanzlei zurückzukommen, in der Hoffnung, Stephen habe sich mittlerweile beruhigt.
Dort angekommen, erklomm ich die Steintreppe und wollte die Eingangstür zu Chislehurst & Partners öffnen. Sie war abgeschlossen. Ich klingelte und wartete ungeduldig, dass Clara an die Tür kam. Schließlich machte sie auf und sah mich nervös an.
»Jessica, ich kann dich nicht reinlassen. Mr.Armitage hat dich gefeuert und hat gesagt, jeder, der dich reinlässt, fliegt ebenfalls raus.«
»Was!«, sagte ich entsetzt. »Das kann er nicht tun! Er muss mir doch zumindest ein richtiges Kündigungsschreiben geben!«
»Er sagt, du hättest ihn geohrfeigt. Wieso hast du das getan?«
»Ich habe ihn nicht angerührt!«, rief ich empört. »Oder hast du irgendetwas von einem Streit mitbekommen?«
»Er sagt, es sei geschehen, nachdem ich essen gegangen war. Du hättest es ihm übelgenommen, dass er deinen neuen Freund nicht mag – und wärst in Wut geraten und hättest ihn geschlagen!«
»Er lügt«, erwiderte ich eisig. »Clara, du glaubst ihm doch nicht etwa, oder?«
Sie zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Seit diesem Blitzschlag benimmst du dich seltsam, und überhaupt …«, sie hielt inne und wollte mir nicht in die Augen sehen, »… ich kann es mir nicht leisten, meinen Job zu verlieren.«
»Ich bringe ihn vor Gericht«, meinte ich aufgebracht. »Seit meinem College-Abschluss arbeite ich hier!«
»Mr.Armitage hat mich gebeten, dir zu sagen, es handle sich um eine fristlose Kündigung nach einem tätlichen Angriff. Und Jessica«, sie senkte die Stimme, »er sagt, er würde dir kein Arbeitszeugnis ausstellen, du bräuchtest also gar nicht erst danach zu fragen. Es tut mir wirklich leid.«
Ich blickte in ihre verängstigten Augen und zuckte die Achseln. »Mir tut’s auch leid, Clara. Mach’s gut.«
Als ich wieder in meinem eigenen kleinen Reich war, sank ich aufs Sofa und legte den Kopf in die Hände. Das war Stephens Rache dafür, dass ich Dan ihm vorgezogen hatte. Obwohl er sich selbst nicht fest an mich hatte binden wollen, ertrug er es nicht, dass ich mit jemand anderem zusammen war. Zudem befürchtete ich, es sei Zeitverschwendung gegen einen Anwalt rechtlich vorzugehen. Gut möglich, dass das das Aus für meine Karriere bedeuten würde.
Lange Zeit saß ich da und tat mir selbst leid. Frankie kam und sah mit großen, seelenvollen Augen zu mir empor. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich hatte ja nicht einmal einen Anwalt, nachdem Stephen Dinge wie den Kaufvertrag für meine Wohnung ausgehandelt und mein Testament aufgesetzt hatte, und ich ihn wohl schlecht dazu bringen konnte, gegen sich selbst vorzugehen.
Ich streichelte Frankies seidige Ohren und blickte ins Leere. Ich hatte nicht nur meinen Job, sondern auch eine Freundin verloren. In diesem Augenblick war ich mir nicht sicher, ob meine Freundschaft zu Clara sich je davon erholen würde, dass sie mich auf diese Weise an der Tür abgefertigt hatte. Und selbst wenn ich ihr verzieh, dachte ich unglücklich, warum sollte sie sich mit einem arbeitslosen Niemand abgeben, der immer wieder langandauernde, unerklärliche Schwächeanfälle bekam?
Der Nachmittag wich dem Abend. Um mich herum wurde es dunkel im Raum. Ich machte mir nicht die Mühe, das Licht anzuschalten. Ich starrte durch die Düsterheit aufs Telefon, sehnte mich danach, Dan anzurufen und ihm mein Herz auszuschütten.
Das Telefon klingelte, zerriss die Stille. Ich schnappte es mir und überlegte, ob es Stephen sein könnte, der sich für sein Benehmen entschuldigen wollte. Es war Dan, und ich stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Beim Klang seiner Stimme ging es mir gleich wieder besser.
»Wie geht’s dir heute?«, fragte er. »Alles okay?«
Seine Besorgnis war Balsam für meine angeschlagenen Nerven, und ich merkte mit Erstaunen, dass ich
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