Mein Traummann die Zicke und ich
mir einen sanften Kuss auf den Mund zu geben.
»Okay, aber wenn du in zehn Minuten nicht zurück bist, schicke ich einen Suchtrupp los.«
»Wenn ich nicht zurückfinde, dann sucht unter Onkel Silas’ Bettdecke nach mir«, lache ich zaghaft.
Sobald er weg ist, schließe ich die Tür hinter mir ab, lehne mich ein paar Augenblicke dagegen und warte, dass mein Herz wieder normal schnell schlägt. Dann gehe ich zum Waschbecken und benetze mein Gesicht mit etwas kaltem Wasser. Mein Spiegelbild sieht blass und ängstlich aus.
»Warum schaust du so besorgt?«, schimpfe ich mit ihm. »Sei kein Idiot. Das ist zwölf Jahre her. Sie weiß wahrscheinlich nicht einmal mehr, wer du bist … Aber in deinen Träumen wird sie sich an dich erinnern … Oh mein Gott … Pippa Langford … Sols Schwester ist Pepper Langford … Ich glaube
es nicht … Ist das jetzt Zufall, oder ist es Schicksal, dass mich diese Frau mein Leben lang verfolgen soll? Warum? Warum? Warum?«
Wie konnte das passieren? Er hat andauernd von »Philly« erzählt, wieso habe ich nicht gemerkt, wer sie ist? Andererseits, was hat er mir schon erzählt? Dass sie genauso alt ist wie ich, dass sie als Kind viel in der Weltgeschichte herumgereist ist, dass sie sich sehr gut verstehen und sich immer sehen, wenn sie in England ist, was mittlerweile nicht mehr so oft vorkommt, weil Jonathan so viel arbeitet.
Er hat mir auch eine Menge Anekdoten aus seiner Kindheit und Familienwitze erzählt, aber da war sie ja immer mit ihnen zusammen. Er hat nie von ihren Schulen erzählt oder wo sie überall gewohnt hat; er hat sie immer nur in den Sommerferien oder an Weihnachten gesehen, und das auch nur jedes zweite Mal, weil sie die anderen Male ihren Vater besucht hat. Ein bisschen mehr hat er darüber berichtet, was sie jetzt macht, dass sie seit acht Jahren verheiratet ist und noch keine Kinder hat, dass sie in Paris lebt und erst vor einem Jahr angefangen hat, die Sprache zu lernen, weil alle Englisch sprechen, und dass er es nicht erwarten kann, sie mir vorzustellen, weil wir uns sicher blendend verstehen würden.
Bei dem Gedanken breche ich in Gelächter aus. Ich und Pippa die Peinigerin verstehen uns blendend?
»Wie hätte ich das wissen können?«, sage ich zu meinem Spiegelbild. »Er hat mir keine Fotos gezeigt. Und sie haben nicht mal den gleichen Nachnamen.«
Mein Spiegelbild antwortet natürlich nicht, sondern runzelt nur noch ein bisschen mehr die Stirn.
»Und was mache ich jetzt? Ich muss ihm irgendetwas sagen, aber was um Himmels willen? Dass ich seine von ihm heiß geliebte
Halbschwester schon kenne und ehrlich gesagt nicht so begeistert von ihr bin?«
Um zu verhindern, dass mein Herz noch schneller rast als die Rotorblätter eines Hubschraubers, versuche ich klar zu denken.
Was, wenn ich gar nichts sage? Ich meine, vielleicht erkennt sie mich ja gar nicht, obwohl das bestimmt nicht lange gutgehen kann. Die zwanzigtausend Fragen, die solche Begegnungen in der Regel mit sich bringen, werden mich früher oder später auffliegen lassen. Du bist auf die St. Benedict in Wickham Green gegangen? Was für ein Zufall, da war ich auch …
Andererseits ist es schon so lange her. Was könnte schlimmstenfalls passieren? Es wird ihr peinlich sein, es wird mir peinlich sein. Am Ende werden wir wahrscheinlich darüber lachen. Ja, wir machen aus meinem Jahr in der Hölle einfach einen Familiengag, den man auf Dinnerpartys immer wieder anbringen kann … Wusstet ihr schon, dass Pippa – entschuldige, Philly – Violet in der Schule regelmäßig verkloppt hat? Was für ein Spaß, nicht wahr?
Okay, mit so was macht man eigentlich keine Witze, und hat sie mich wirklich verprügelt? Zählt die Tatsache, dass sie mir bei drei verschiedenen Gelegenheiten ihren Ranzen über den Kopf gezogen hat, als Verprügeln? Als mich beim dritten Mal die prall mit Büchern gefüllte Tasche seitlich am Kopf traf, ist es mit mir durchgegangen, und ich habe ihr einen Kinnhaken verpasst – wofür ich prompt eine Woche lang Schularrest bekam.
Danach nannte sie mich nur noch Violet Blauauge. Sehr lustig. Nicht!
»Was soll ich nur tun, was soll ich nur tun, was soll ich nur tun …?«, seufze ich und lehne mich mit der Stirn gegen den Spiegel.
Wenn ich keinen Schimmer habe, was ich machen soll, ist erst einmal gar nichts zu machen nicht die schlechteste Option. Also mache ich das. Ich beende mein Selbstgespräch mit dem Spiegel, mache Pipi, wasche mir die Hände, atme einmal tief durch und
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