Mein Weg - Ein politisches Bekenntnis
weitere Kreise ziehende Massenstreiks, die in eine Revolution münden. Ganz wie im Lehrbuch.
Die Variante eines pragmatischeren Vorgehens, bei dem die Macht nach und nach einer neuen Elite übertragen wird, scheint mir weniger wahrscheinlich, da sich Putin als emotionaler, Reflexen gehorchender Mensch offenbart hat, was sein Umfeld mühelos auszunutzen weiß. Dieses wird die Sache bis zum Schluss hinziehen, in der Hoffnung, die Macht an sich reißen zu können oder sich andernfalls davonzumachen, was freilich naiv ist, denn es wird nur einen geben, der die Macht an sich reißt und der dann alle anderen »umformatiert«. Und niemand kann sich davonmachen – dazu ist die Welt zu transparent, und auch kleine Sündenfälle summieren sich.
Gleichwohl wäre ein kontrollierter Wechsel der Elite möglich, wenn es internationale Vereinbarungen mit gewissen Sicherheitsgarantien für die alte Elite gäbe. Mir schien seinerzeit, dass Putins Schachzug im Jahr 2008, die Ernennung Medwedews, ein Schritt in diese Richtung war. Aber die Emotionen waren wohl stärker.
Die neue Elite wäre imstande, behutsam die nötigen Reformen durchzuführen, Institutionen eines demokratischen Staatswesens zu schaffen und zu stärken und sich dabei den Umstand zunutze zu machen, dass sich die Gesellschaft nur allmählich aus ihrer Apathie lösen wird. Medwedew hatte damit begonnen, die notwendigen Schritte einzuleiten, konnte seine Beschlüsse jedoch nicht umsetzen, weil er keine Personalentscheidungen treffen durfte. Die Situation ist instabil. Und das Schlimmste ist, dass die Zeit davonläuft. In der Gesellschaft baut sich ein Protestpotenzial auf. In einigen Jahren wird es nicht mehr möglich sein, in Ruhe, Schritt für Schritt, Reformen durchzuführen.
Nichtsdestoweniger gibt es, wenn wir von der neuen Elite sprechen, keine antagonistischen Widersprüche zwischen ihr und mir. Ganz sicher denke ich über vieles anders, und vieles würde ich anders machen, aber die Schritte und Gedanken dieser Leute sind für mich nachvollziehbar und rufen bei mir keinen scharfen Widerspruch hervor.
Das Primat des Rechts, das Berücksichtigen von Meinungen aus unterschiedlichen Bereichen der Zivilgesellschaft, die Bereitschaft, die eigenen Schritte zu erläutern und auch die Gegner anzuhören, ihnen entgegenzukommen, ohne darin eine Untergrabung der eigenen Autorität zu sehen, die Absage an die Korruption als Methode zur Verwaltung des Staatsapparats, die Eindämmung gewaltsamer Mittel der Einflussnahme – all das sind vernünftige Grundlagen für die Entwicklung des Landes, um die Trümmerhaufen wegzuschaufeln und den Übergang zu einer neuen Qualität der wirtschaftlichen, politischen, gesellschaftlichen und staatlichen Ordnung zu meistern.
Wie lange wird sich ein solcher Transformationsprozess bis zu den ersten wirklich freien Wahlen hinziehen? Zehn bis 15 Jahre. Bis zur Schaffung sämtlicher Grundlagen für eine moderne Wirtschaft und Zivilgesellschaft? Eine Generation, 20 bis 25 Jahre. Anfangen muss man aber schon »gestern«.
Das Hauptproblem unserer Gesellschaft sind nicht radikale Strömungen. Es gab sie, es gibt sie und es wird sie immer geben – so ist das Leben, so ist der Mensch. Ein Blick auf jedes beliebige Land dieser Erde, selbst das Land mit dem größten Wohlstand, die Schweiz, genügt.
Das Hauptproblem unserer Gesellschaft ist die extreme Trägheit, die Apathie, das Bestreben, die Verantwortung für das eigene Schicksal auf andere abzuwälzen: den Vorgesetzten, den Bürgermeister, den Präsidenten.
Im 20. Jahrhundert haben wir aufgehört, Bürger unseres Landes zu sein, und uns stattdessen in Einwohner verwandelt. Ja, einige Male sind wir »aufgewacht« – während des Krieges und Ende der Achtziger – und dann wieder eingeschlafen und haben dabei den eigenen Sieg, die eigene Zukunft, die Zukunft unserer Kinder aus der Hand gegeben. Es sieht so aus, als hätten wir gerade erst begonnen, abermals aufzuwachen …
Ohne echte Bürger, ohne Zivilgesellschaft kann es eine gesunde Elite, ein gesundes Land, einen gesunden Staat nicht geben.
Unsere Zukunft, die Zukunft Russlands hängt davon ab, ob es uns gelingt, wirklich wach zu werden.
Es besteht kein Zweifel: Die Gesellschaft kann und darf nicht homogen sein. Manche sind bereit, für sich selbst und andere Verantwortung zu übernehmen, andere kommen ohne fremde Fürsorge nicht aus. Wenn aber das ganze Land auf fremde Fürsorge wartet, wird es okkupiert. Dabei ist es unerheblich,
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