Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mein Weg - Ein politisches Bekenntnis

Mein Weg - Ein politisches Bekenntnis

Titel: Mein Weg - Ein politisches Bekenntnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michail Chodorkowski
Vom Netzwerk:
herum passiert, und große »moralische Flexibilität« an den Tag zu legen. Aber wenn man mich mit dem Gesicht in die Scheiße drückt, und zwar so, dass es sich nicht mehr ignorieren lässt, dann werden meine Prioritäten sehr schnell klar.
    Geld, Besitz? Das sind nur Werkzeuge. Und auch das eigene Leben, so wertvoll und einmalig es auch sein mag, ist nur ein Werkzeug. Was zählt, ist die Ehre – das eigene Bild in den Augen der unabhängig denkenden, gebildeten russischen Patrioten wie auch der Menschen im Ausland, die Russland wohlgesonnen sind. Das ist meine innere Sichtweise.
    Ich mag es ganz und gar nicht, wenn das Leben einen zwingt, diese Art von Entscheidung zu treffen. Ich zögere sie so lange wie möglich hinaus. Aber wenn es dann sein muss, gehe ich meinen Weg bis zum Ende. Stur, mit dem Kopf durch die Wand. Das ist wahr. Wahr ist aber auch, dass der Aufsatz von Julia Latynina, der erschien, als die Krise von 1998 schon wieder in Vergessenheit zu geraten drohte, für mich eine Ohrfeige zur rechten Zeit war. Vor allem der Schluss darin hat mich getroffen. 208 Eben daraufhin entstand Offenes Russland.
    Es ist schon komisch, wenn man sich überlegt, was für mein Schicksal ausschlaggebend war …
    Vor dem Gefängnis hatte ich keine Angst. Ich nahm an, man würde mich entweder bald wieder freilassen oder mich umbringen. Dass sie sich selbst solche Kopfschmerzen bereiten würden, für so viele Jahre, hätte ich nicht für möglich gehalten. Das war objektiv die schlechtere Wahl. Aber ich bin froh darüber – aufs Sterben war ich nicht gerade scharf. Und an irgendwelche moralischen Hemmungen der Gegenseite habe ich damals schon nicht geglaubt und tue es heute erst recht nicht. Die Machtvertikale ist ein gefährliches Ding. Der Schwanz wedelt ziemlich oft mit dem Hund.
    Sie haben mich gebeten, meine Motive zu erläutern. Das will ich versuchen.
    Gegen Ende 2002 war mir völlig klar, dass der »Thermidor« bevorstand. Es gab drei Auswege: emigirieren, eine »sozialdemokratische« Reform durchsetzen (also auf einen Teil des eigenen Besitzes verzichten und dafür eine allmähliche nationale Aussöhnung erreichen) oder sich der neuen Opritschnina 209 anschließen. Einen vierten Weg sah ich nicht. Zumindest keinen, der im Rahmen der gegebenen politischen Konstellation praktikabel gewesen wäre. Alle drei Optionen lagen für mich »auf dem Tisch«.
    Der dritte Weg war von vornherein unannehmbar. Das heißt, nicht unter allen Umständen natürlich. Ich war durchaus bereit, bestimmte »Interessen zu berücksichtigen«, wie es so schön heißt, aber verlangt wurde damals etwas anderes: die Bereitschaft, in die halblegale Sphäre zurückzufallen, den Kopf auf den Richtblock zu legen und sich vollkommen abhängig zu machen. Was sollte ich mit so einer Art von »Eigentum«?
    Eine Emigration wäre ein Verrat an all meinen Leuten gewesen, an all denen, die mir vertraut hatten und die danach ihrerseits keine Wahl mehr gehabt hätten. Ich versuchte zwar, meinen Leuten westliche »Deckung« zu verschaffen (durch den Verkauf eines Teilpakets an Aktionäre im Ausland), aber mir war klar, dass diese Variante kaum aufgehen konnte.
    Der letzte Weg war ein politisches Bündnis mit dem »liberalen Flügel«, dem ich von jeher nahegestanden hatte; hierher gehört aber auch die Fusion mit Sibneft und der Vorschlag an Putin, die Ansprüche des »Silowiki-Flügels« zurückzustutzen.
    Leider hatte Putin seine Entscheidung schon getroffen, aber als das klar wurde (im Februar 2003), war es für einen Kurswechsel bereits zu spät. Und welche Richtung hätten wir auch einschlagen sollen? Unsere Optionen waren ja dieselben wie vorher. Man hätte allenfalls versuchen können, sich zu »verkriechen«, sämtliche Aktivitäten einzustellen und auszureisen.
    Heute kann man nur spekulieren, aber damals hatte ich das Schicksal von NTW noch deutlich vor Augen: Sie würden enteignen, zerschlagen, Geiseln nehmen. Es hatte also durchaus Sinn, bis zum Schluss zu kämpfen, zumal die »Verbündeten« nicht aufgaben und meinten, es sei noch nicht alles verloren.
    Dann wurde Platon verhaftet. Von da an war die Möglichkeit einer Emigration endgültig gestorben, weil das Druckmittel der Geiselnahme nun keine wahrscheinliche Annahme mehr war, sondern Realität. Es gab ja nur zwei Möglichkeiten: Emigrieren hätte bedeutet, alles aufzugeben, eine bestimmte Zahl von Geiseln zu akzeptieren und meine Verbündeten im Stich zu lassen – das alles für eine gewisse

Weitere Kostenlose Bücher