Mein Weg - Ein politisches Bekenntnis
es ihm recht ist, dass sein Handeln öffentlich wird, oder ob es dafür noch zu früh ist.
Der zweite Grund, warum ich 2004 noch nicht bereit war, meine Memoiren zu verfassen, hatte damit zu tun, dass ich, kurz nachdem ich ins Gefängnis gekommen war, zu schreiben begonnen hatte. Am Anfang war das sehr schwer. Artikel sind keine Interviews – hier will jeder Satz gut bedacht sein. Angesichts meiner besonderen Lage war mir klar, dass meine Texte nicht nur von meinen Freunden gelesen würden – und alle anderen würden nach Schwachstellen suchen, um später umso schmerzhafter »zuzuschlagen«. Nach den ersten Artikeln gab es viele Zweifel: Ob ich selber schreibe, wozu ich das mache und überhaupt … Es gab viele Fragen. Umso wertvoller war da für mich die Unterstützung der Verlage ( Wedomosti und Nowaja gaseta ), die als erste an mich glaubten und meine Arbeiten veröffentlichten. Gleichzeitig gab es auch unter meinen Angehörigen und Freunden viele Zweifler, denn der Autor Chodorkowski in meinen Artikeln entsprach oft nicht dem öffentlich verbreiteten Chodorkowski-Bild, das vor meiner Verhaftung geprägt worden war. Es war nicht einfach für mich, das alles über mich zu lesen und zu hören …
Damals, im Jahr 2004, beschloss ich für mich, dass die Zeit für Memoiren noch nicht gekommen war. Ich muss den Leser aber gleich enttäuschen oder auch erfreuen: Auch jetzt ist die Zeit nicht reif dafür. Es ist immer noch zu früh. Wann ich zu einer Autobiografie im eigentlichen Sinn bereit sein werde, kann ich nicht sagen. Das hängt sowohl mit meiner derzeitigen Situation zusammen als auch damit, dass ich noch nicht Bilanz ziehen will – ich hoffe noch auf eine Zukunft!
Zu diesem Buch habe ich mich auch deshalb entschlossen, weil ich Natascha Geworkjan schon seit über 15 Jahren als wunderbare, aufrichtige Journalistin und einfach als guten Menschen kenne. Natascha, die zu den Journalisten zählt, deren Meinung mir äußerst wichtig ist, zweifelte zunächst selbst daran, ob die Beiträge, die in der Nowaja gaseta unter meinem Namen veröffentlicht wurden, tatsächlich von mir waren. Ausgerechnet ihre 2004 formulierte kritische Haltung zu meinen literarischen »Talenten« und meiner Autorschaft haben sich die Kreml-Propagandisten zunutze gemacht und tun dies bis heute. Als sie mir vorschlug, gemeinsam ein Buch zu schreiben, war mir deshalb auch gleich klar, dass dies keine leichte Aufgabe werden würde.
Das Buch hat zwei Autoren, die in der Bewertung, Auslegung und Beschreibung mancher Ereignisse oft unterschiedlicher Meinung sind. Das ist ganz normal. Auch in der Frage, inwieweit sie den Aussagen einzelner im Buch vorkommender Personen Glauben schenken, sind sich die Autoren nicht immer einig. Jeder von uns zeichnet für seinen Teil verantwortlich, für das, was er in der Ich-Form sagt. Während der Arbeit an diesem Buch (in Form eines Briefwechsels) haben Natascha und ich viel gestritten, und das, was der Leser zu sehen bekommt, ist im Großen und Ganzen das Ergebnis eines Kompromisses. Das Wichtigste, was die Autoren dieses Buches eint, ist ihre Loyalität gegenüber den gemeinsamen Werten der europäischen Zivilisation, deren integraler Bestandteil auch mein Land ist – ungeachtet der vergeblichen Bemühungen kleiner und großer Politiker und Politintriganten, Russland in den verschiedenen Phasen seiner Entwicklung vom einmal gewählten Weg abzubringen.
Jetzt, da Sie dieses Buch lesen, haben Platon Lebedew und ich nach Verbüßung der ersten Achtjahresfrist in Haft bereits eine zweite Haftstrafe erhalten und warten auf das Jahr 2016; reich sind wir längst nicht mehr. Wladimir Putin hat sich selbst erneut für das Amt des Präsidenten nominiert. Der Chefjurist unseres Unternehmens, Rechtsanwalt Wassja Alexanjan, ist gestorben, bevor er die Aussagen machen konnte, die die Ermittlungsbeamten von ihm wollten. Die Staatsanwälte, Richter und Ermittlungsbeamten, die an unserem Verfahren beteiligt waren, haben inzwischen weitere Beförderungen, Sternchen und Prämien erhalten. Die russische Forbes -Liste hat sich nicht wesentlich verändert; die Reichen sind im Landesdurchschnitt insgesamt noch reicher und die Armen noch ärmer geworden.
Aber man kann auch noch etwas anderes beobachten, und das ist selbst aus dem Fenster einer Gefängniszelle in Sibirien oder Karelien zu sehen: Es gibt mit jedem Jahr, jedem Monat und Tag mehr aufrichtige Menschen, Menschen, die ein Gewissen haben, Menschen, die Veränderungen
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