Mein Weg - Ein politisches Bekenntnis
das hat auch funktioniert! Natürlich hat man uns auch angelogen, schließlich wollte uns kein Mensch angreifen. Unsere Probleme kamen nicht von den ›Machenschaften der Feinde‹, sondern von unserer eigenen Blödheit, Schlamperei und Unfähigkeit zu arbeiten, die mit unserer idiotischen politischen und wirtschaftlichen Lage zu tun hatten. Doch darauf musste man erst einmal kommen. Ich bin darauf gekommen. Aber erst allmählich, vielleicht um 1993/1994.«
Seine Komsomolvergangenheit hat man Chodorkowski »im Volk« bis heute nicht verziehen – seine Komsomolvergangenheit und seine kapitalistische Zukunft. Man hatte nämlich entweder Komsomolze zu sein oder Kapitalist. Und doch lagen die Anfänge des Kapitalismus in Russland vielfach gerade bei den Jungunternehmern aus dem Komsomol.
Leonid Newslin: »Vor mir saß ein Mensch, der es auf der Komsomol-, Partei- und Verwaltungsschiene zu etwas bringen konnte, der bereits Komsomolsekretär des riesigen Mendelejew-Instituts mit, ich glaube, sechstausend Leuten gewesen war und der bis dahin durchaus gewisse Wahlmöglichkeiten gehabt hatte, wohin er gehen wollte.
Er wollte Direktor einer wissenschaftlichen Produktionsvereinigung werden, er wollte seinen eigenen Betrieb, sein eigenes Forschungsinstitut, und er wollte dort ein vollwertiger Boss sein. Das war sein sowjetischer Traum. Davon träumte er zu dem Zeitpunkt, als ich in seinem Forschungs- und Technikzentrum anfing und er die Organisation bereits in diese Richtung lenkte. Ich fand das reizvoll, weil er Dinge wusste und konnte, die ich nicht wusste und konnte; er war fest in diesem System verankert. Er konnte zum Vorsitzenden des Stadtbezirksexekutivkomitees gehen, zum ersten Sekretär des Stadtbezirksausschusses, zum zweiten, zum dritten – ohne Weiteres, er kannte sie alle, er kam beim Moskauer Stadtrat rein und konnte dort über die Komsomol- oder Parteischiene zu wem er wollte. Er war ein göttliches Wesen für mich in diesem damals noch sowjetischen Koordinatensystem. Deshalb habe ich irgendwie an ihn geglaubt. Bei ihm spürte man diese Spannkraft, dieses Entwicklungspotenzial. Und das bestätigte sich schon sehr bald.«
Eine absurde, verrückte, hungrige Zeit
Bis 1988 lebte ich mit meinem Sohn im Ausland. Als ich meinen Eltern sagte, dass ich nach Russland zurückkehren wollte, bemerkte mein Vater sehr richtig: »Und was machst du, wenn deine letzte Jeans reißt?« Meine Mutter wurde konkreter: »Dann kauf dem Jungen Kleider auf Zuwachs.« Als ich das erste Mal nach meiner Ankunft in Moskau ein Lebensmittelgeschäft betrat, pfiff ich vor Staunen. »Nicht pfeifen«, sagte die Verkäuferin streng, »sonst geht das Geld aus«. Ich lächelte traurig: Geld brauchte ich nicht, es gab ohnehin nichts zu kaufen. Buchstäblich nichts. Gerade waren zwei Busse abgefahren, die aus der hungrigen Provinz in das vermeintlich satte Moskau gekommen waren, und die Reisenden hatten alles leergekauft. Die Verkäuferin war im Grunde völlig überflüssig. Jeder Supermarkt in Prag oder Sofia hätte sich angesichts der leeren Regale dieses Moskauer Feinkostladens wie ein Lebensmittelparadies, ein Ort unglaublicher Fülle ausgenommen.
Ich schielte zu meinem siebenjährigen Sohn. Ungeduldig zerrte er an meiner Hand: »Mama, nun kauf endlich was und komm. Und vergiss den Käse nicht«, quengelte er. »Ich fürchte, den Käse können wir ganz vergessen, mein Schatz«, erwiderte ich. Er verstand mich nicht.
Dafür gab es bald Glasnost. Und so etwas wie Marktbeziehungen entstanden. Es machten zum Beispiel genossenschaftliche Restaurants und Cafés auf, wo man mit dem Spülen von Gläsern in fünf Tagen durchaus das Monatsgehalt eines Journalisten, 150 Rubel, verdienen konnte. Um sich dann mit diesem Geld auf den Markt zu begeben und bei privaten Händlern all das zu kaufen, was der Geldbeutel hergab.
Wie die sowjetische Wirtschaft funktioniert hatte, war mir immer ein Rätsel gewesen. Nach dem Verfall des Ölpreises gegen Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre wurde offensichtlich, dass sie schlicht überhaupt nicht funktionierte. Das Ergebnis war katastrophal. In seinem Buch Der Untergang des Imperiums zitiert Jegor Gaidar aus dem Brief eines sowjetischen Schülers vom 14. Februar 1991: »Letzte Woche stand ich in einer furchtbar langen Schlange nach Fleisch an. Wissen Sie, wie lange ich dort gestanden habe? Ich traue mir gar nicht, Ihnen das zu sagen, aber ich habe 5,5 Stunden dort gestanden. Schlangen hat es bei uns immer
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