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Mein Weg - Ein politisches Bekenntnis

Mein Weg - Ein politisches Bekenntnis

Titel: Mein Weg - Ein politisches Bekenntnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michail Chodorkowski
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Juden verschärfte sich der Antisemitismus. Es wurden Arbeitsbeschränkungen eingeführt, besonders, wenn die Arbeit an einen Zugang zu vertraulichen Unterlagen gebunden war. 1978 wurde Natan Scharanski zu 13 Jahren Haft verurteilt. Es war einer der meistbeachteten Prozesse gegen einen Otkasnik 47 . Unmöglich, dass Chodorkowski nichts davon gehört hat! Und doch war es so.
    Sehr viel hing vom Umfeld ab. Davon, worüber die Eltern zu Hause sprachen. So haben mir zum Beispiel alle meine Freunde aus der Generation Chodorkowskis gesagt, sie hätten aus den Gesprächen ihrer Eltern vom Scharanski-Prozess erfahren. Das waren hauptsächlich Leute aus dem geisteswissenschaftlichen Bereich, Kulturschaffende zumeist. Freunde, Freunde von Freunden oder Nachbarn emigrierten. Sie nahmen ihre Kinder mit, die unsere Freunde waren. Ich erinnere mich noch genau, wie ich in diesen Jahren zu Großmama und Großpapa nach Tbilissi fuhr und der Bezirk, in dem sie wohnten, auf einmal verwaist war. Alle jüdischen Familien waren ausgereist. Auch alle meine Freunde und ihre Eltern waren weg. Das waren die ersten schmerzhaften Verluste und die ersten Fragen: Warum gehen sie weg?
    Doch wie sich herausstellt, gab es auch Kinder in jüdischen oder gemischten Familien, die das bis zu einer bestimmten Zeit nicht merkten, nicht sahen, nicht zu spüren bekamen. Vielleicht hat auch ihnen einmal jemand die alltägliche Beleidigung »Judenbalg« nachgeworfen, vielleicht auch nicht. Unter den Technikern und Ingenieuren, die in der Industrie arbeiteten, also in dem naturwissenschaftlich geprägten Umfeld, in dem auch Michail aufwuchs, lief das offenbar anders als unter den Geisteswissenschaftlern. Ein Bekannter von mir, der etwa in Chodorkowskis Alter ist und aus demselben Milieu stammt, sagt, er habe das Wort »Antisemit« zum ersten Mal in den letzten Schuljahren in dem gleichnamigen Spottlied von Wladimir Wyssozki gehört:
    Was soll ich als Gauner oder Bandit,
    Vielleicht werd’ ich doch lieber Antisemit:
    Die haben zwar nicht das Gesetz im Rücken,
    Aber dafür stärkt sie der Massen Entzücken.
    Den meisten dämmerte erst bei Studienbeginn allmählich, dass nicht alles, was Jupiter darf, auch dem sowjetischen Juden erlaubt ist. Sie sahen zum Beispiel, wie man Juden bei den Eignungsprüfungen durchfallen ließ. Bis zur Immatrikulation an der Hochschule wusste man in der Regel, dass man als Jude das Schicksal lieber nicht herausfordern und es bei der mechanisch-mathematischen Fakultät der Moskauer Lomonossow-Universität versuchen sollte, dass einem das Physikalisch-Technische Institut in Tschernogolowka aber durchaus offenstand. In den Pässen der meisten Juden stand zwar, wie auch bei Chodorkowski, unter Nationalität »Russe«. Doch wie es in Russland bis heute heißt – Prügel (im weiteren Sinne des Wortes) bezieht man für sein Gesicht, nicht für seinen Pass.
    Interessanterweise haben die meisten von denen, die es in Politik und Wirtschaft in den neunziger Jahren ganz nach oben schafften, eine naturwissenschaftlich-technische Ausbildung: in Mathematik, Physik, Chemie, Regelungstheorie … Vielleicht ging es in diesem Umfeld ja doch weniger ideologisch zu, und die Leute wurden ihren Fähigkeiten gemäß beurteilt.
    Komsomol-Start-up
    Chodorkowski wurde 1980 an dem in dieser Hinsicht recht demokratischen Chemisch-Technischen Mendelejew-Institut immatrikuliert, das er 1986 mit Auszeichnung abschloss. Als Student heiratete er ziemlich früh, schon im dritten Studienjahr, eine Kommilitonin. Marina Chodorkowskaja bekam den Beginn der Romanze mit Lena, der künftigen Frau ihres Sohnes, nicht mit. Sie lag damals ein Jahr lang im Krankenhaus, und just in dieser Zeit fing es an. Michail und Lena besuchten sie aber im Krankenhaus. Sie erinnert sich, wie ihre Zimmergenossin, eine einfache russische Frau, die jungen Leute beobachtete und, als sie wieder gegangen waren, den Kopf schüttelte: »Die bleiben nicht zusammen.« Die Ehe hielt nicht lange, nur drei Jahre. Nach der Trennung zog Michail aus und wohnte nun in verschiedenen Mietwohnungen.
    »Dafür war Paschka jetzt da«, lächelt Marina. Pawel kam im Sommer 1985 zur Welt, Michail Chodorkowski war 22 Jahre alt. Als ihr Enkel später, in vergleichbar jungen Jahren, selbst heiraten wollte, versuchte die Großmama, ihn davon abzubringen: »Dein Vater hat früh geheiratet und du siehst ja, was dabei herausgekommen ist.« Doch Pawel hielt ihr ihr eigenes Argument entgegen: »Dafür hast du einen Enkel

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