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Mein Weg zum Herzkind

Mein Weg zum Herzkind

Titel: Mein Weg zum Herzkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sam Jolig
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auf und ab. Von der Duftkerze in der einen Ecke des Entbindungsraumes zum Bett in der anderen Ecke – und zurück. Dabei stützt sie mit beiden Händen ihren Bauch, der ihr jetzt von Minute zu Minute
monströser vorkommt. Wie lang habe ich eigentlich meine Füße schon nicht mehr gesehen?, fragt sie sich und muss grinsen.
    Als es an der Tür klopft und ihre beste Freundin eintrifft, um sie bei der Geburt zu unterstützen, haben die Wehen bereits wieder eingesetzt. Und dann geht es schnell.
    Marianne liegt auf dem Bett. Ihre Hände krallen sich in die Hände ihrer Freundin. Ihre Beine sind weit geöffnet. Die Hebamme kauert dazwischen. Die Schmerzwellen der Wehen rauben ihr fast die Besinnung. Sie atmet dagegen an und presst, wenn die Hebamme sie dazu auffordert. Atmen, pressen, atmen, pressen, atmen, pressen. Marianne hat das Gefühl, als würde ihr Unterleib von innen zerrissen, so gewaltig ist der Schmerz. Nach der Geburt der anderen Kinder hat sie versucht, dieses Gefühl zu beschreiben, aber es ist ihr nie gelungen, die richtigen Worte zu finden.
    Und plötzlich ist der Schmerz weg. Und das Kind ist da.
    »Es ist ein Junge«, sagt die Hebamme. »Herzlichen Glückwunsch. Ein kerngesunder Junge.«
    Routiniert wird die Nabelschnur durchtrennt, der erste medizinische Check vorgenommen und das Kind mit warmen Tüchern umhüllt. Dann wird es weggebracht. Neun Monate hat Marianne es unter ihrem Herzen getragen. Jetzt fühlt sie sich leer und allein. Leer und allein, aber doch nicht unzufrieden. Sie hat eine Entscheidung getroffen, die nicht leicht war.
    »Aber es war richtig«, flüstert sie.
    Drei Stunden später packt sie ihre Habseligkeiten in die schwarze Reisetasche und geht nach Hause. Zurück in ihr altes Leben – ohne ihr Baby.
    Zwischen Herz und Verstand
    Marianne ist eine starke Frau. Direkt nach der Entbindung ihres vierten Kindes kehrt sie zurück, ohne ihr Baby. Nach Hause. Zu ihren anderen drei Kindern, um mit ihnen das Fest der Liebe – Weihnachten – zu feiern. Den Weg dorthin nimmt sie bewusst zu Fuß auf sich. Sie braucht frische Luft, um klare Gedanken fassen zu können. Ihr Herz ist unendlich traurig. Sie hat gerade ein Stück von sich zurückgelassen. Jetzt braucht sie eine starke Schulter, einen Menschen, der ihr hilft, den Schmerz zu verarbeiten. Doch sie geht ihren Weg alleine. Ganz alleine. Marianne weiß, wenn sie die Schwelle ihrer Wohnung betritt, muss sie funktionieren. Keine Emotionen, keine Gefühlsausbrüche vor den Kindern, die ihre Entscheidung, das Baby zur Adoption freizugeben, sowieso schon oft im Vorfeld kritisiert hatten. Zum Glück ist ihre Mutter aus Bayern noch ein Weilchen an ihrer Seite. Eine Stütze auf vielen Ebenen. Eine gute Mutter eben. Marianne zweifelt an sich. Ist sie selbst etwa eine schlechte Mutter? Hat sie das Falsche getan? Hat sie ihr Kind jetzt im Stich gelassen? Marianne rinnen unzählige Tränen über ihr Gesicht. Schritt für Schritt kommt sie ihrem Wohnviertel näher. Ihr Körper ist noch immer erschöpft von der Entbindung. Langsam sollte sie ihre Maske überstreifen. Gleich werden sich ihre Kinder freuen sie wiederzusehen und mit ihr Weihnachten feiern wollen. Marianne schluckt noch einmal den Schmerz bewusst herunter und wischt sich ihre Tränen aus dem Gesicht. Das alte Taschentuch aus ihrer Hosentasche tut auch seinen Dienst, und schon fühlt sich die junge Mutter im »Funktioniermodus«.

    Als sich die Tür zu ihrer Wohnung öffnet, stürmt eine wilde Bande auf sie zu, gefolgt von der Oma, die mit einem schnellen Blick in die Augen ihres Kindes die Gefühle ihrer Tochter erkennt. Doch sie ist sensibel genug sich vor den Kindern nichts anmerken zu lassen. Ihre Lieblinge in den Armen überkommt Marianne auch schon die erste große Welle. Sie muss unweigerlich an ihren neugeborenen Sohn denken, der nun alleine auf der Intensivstation liegt und auf seine neue Mutter wartet. Wieder steigen Tränen auf, die sie nun aber nicht mehr zulassen darf. Marianne versucht schnell ins Tagesgeschehen einzusteigen und beginnt den Ablauf der »fröhlichen« Weihnacht zu planen und sich mit Belanglosem zu beschäftigen. Ablenkung, ein wichtiges Schutzschild.

    So und ähnlich verlaufen die nächsten Wochen und Tage. Immer wieder erinnert sie die Nähe ihrer Kinder an das Baby, das nun das Kind einer fremden Frau geworden ist. Marianne wird über das Jugendamt informiert. Ihr Sohn ist in seinem neuen Zuhause angekommen und es soll ihm gut gehen. Eine tröstliche

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