Mein Weg zum Herzkind
und die Oma hat es sich auf der Couch gemütlich gemacht. Sie ist aus Bayern angereist, weil die Geburt ihres vierten Enkelkindes kurz bevorsteht. Mariannes Arzt hat die Silvesternacht als Termin errechnet.
Aber Marianne hat das Gefühl, dass sich das Baby nicht an die Terminvorgaben halten wird. Es strampelt in ihrem Bauch. Unruhig läuft sie in der Wohnung hin und her, trinkt ein Glas Wasser in der Küche, prüft noch einmal den Inhalt der schwarzen Reisetasche, die sie für die Geburt im Krankenhaus bereitgestellt hat, richtet einen der Goldpapiersterne am Weihnachtsbaum neu aus, streichelt die Hunde, guckt nach den Kindern. Und die ganze Zeit horcht sie in sich hinein und spürt das stechende Ziehen, das sie schon kennt von der Geburt der älteren Kinder.
Gegen zwei Uhr morgens entwickeln sich aus dem Ziehen die ersten Wehen. Sie sind schmerzhaft, aber Marianne weiß, dass dies erst der Anfang ist. Später werden die Schmerzen unerträglich sein und im gleichen Moment einem Glücksgefühl Platz machen, das größer und gewaltiger sein wird als alles andere.
Die Geburt
Draußen ist der Wind aufgefrischt und feine Eiskristalle bedecken die Scheiben. Marianne trinkt noch einen heißen Kakao, bevor sie ihre Mutter weckt.
»Mama, ich glaube es ist so weit.« Dann ruft sie das Taxi. Im Krankenhaus wird sie aufgefordert, sich in einen Rollstuhl zu setzen. Nach Erledigung der Formalitäten schiebt eine Schwesternhelferin
sie auf die Entbindungsstation. Es ist angenehm hier, die Wände sind in einem matten Terrakotta-Farbton gestrichen, entspannende Musik kommt aus versteckten Lautsprechern und ein Hauch von Rosenduft liegt in der Luft. Marianne schaut sich um und entdeckt die Aromakerzen auf einem Fensterbrett.
Unterdessen kommen die Wehen in regelmäßigen Abständen und mit zunehmender Intensität. Einige sind so stark, dass Marianne scharf die Luft einziehen muss, um die Schmerzwellen wegzuatmen. Die diensthabende Hebamme stellt sich vor, um mit Marianne den Ablauf der Geburt zu besprechen. Es handelt sich um eine ältere und offenbar erfahrene Frau. Das macht es Marianne leichter, ihr zu sagen, was sie nun sagen muss.
»Ich werde mein Kind unmittelbar nach der Geburt zur Adoption freigeben. Das ist mit dem Jugendamt so besprochen.«
Sie reicht der Geburtshelferin ein Blatt Papier mit der Telefonnummer der zuständigen Sozialarbeiterin.
»Bitte rufen Sie dort an, wenn mein Sohn da ist. Ich werde ihn nicht stillen und nach der Entbindung schnell nach Hause zu meinen anderen Kindern zurückkehren. Das Baby soll hier auf der Geburtsstation bleiben, bis es von seinen neuen Eltern abgeholt wird.«
Wahrscheinlich hört die das auch nicht jeden Tag, denkt sich Marianne, während sie die Hebamme beobachtet. Aber die ältere Frau reagiert gelassen.
»Natürlich«, sagt sie, »ich habe das schon öfter gemacht.«
Diese Professionalität beruhigt Marianne. Sie hat sich die Entscheidung nicht leicht gemacht. Jetzt horcht sie in sich hinein und versucht zu spüren, ob es noch letzte Zweifel gibt. Aber sie empfindet nur den Wunsch, die Schwangerschaft gut zu Ende
zu bringen – und dann nach Hause zu gehen. Zu ihrer Familie. Das Kind in ihrem Bauch gehört nicht dazu.
Liebe ich dieses Kind?, fragt sie sich. Ja. Möchte ich dieses Kind behalten? Nein. Muss ich deshalb ein schlechtes Gewissen haben? Nein. Dieses »Nein« wiederholt sie noch einmal, laut, klar und deutlich. Die Hebamme blickt irritiert von ihren Papieren auf, dann lächelt sie.
Inzwischen ist es vier Uhr morgens, und Marianne steht in einem weißen Krankenhauskittel vor dem Kreissaal. Sie hat in warmem Wasser gebadet und sich dabei so sehr entspannt, dass die Entspannung auch das Baby in ihrem Bauch erfasste. Jedenfalls hat es sein Gestrampel nun eingestellt und verhält sich plötzlich sehr unauffällig. Auch die Wehen kommen unregelmäßiger und bald darauf gar nicht mehr.
»Ist das normal?«, fragt Marianne.
»Ja«, sagte die Hebamme, »das Normale an den meisten Geburten ist, dass sie nie ganz normal sind. Aber dass die Wehentätigkeit zwischendurch nachlässt, ist nun wirklich nichts Außergewöhnliches.«
Mariannes Entspannung aus der Badewanne ist trotzdem wie weggeblasen. Sie will nicht, dass die Wehentätigkeit nachlässt. Sie will keine Zeitverzögerung. Sie will das Baby jetzt bekommen – und dann nach Hause gehen.
»Marschieren Sie«, sagt die Hebamme, »bewegen Sie sich. Das hilft meistens.«
Und so marschiert Marianne auf und ab und
Weitere Kostenlose Bücher