Mein wirst du bleiben /
Nach dem Ende ihrer Einsamkeit. Doch sie hatte Miriam nur angesehen und sie gebeten, sie nicht wie eine Geistesgestörte zu behandeln.
Natürlich hatte sie Miriam damit verletzt. Die gab sich so unendlich Mühe. Und Thea liebte Miriam, so gut sie es eben konnte. Dennoch … Manchmal war diese junge Frau ein Rätsel. Ihre tiefe Religiosität. Ihre Versunkenheit in geistliche Musik, in der sie manchmal kaum noch ansprechbar war. Ihr Blick, der oft nach innen gewandt schien. Und dann diese Parallelität von Empathie und einer Gleichgültigkeit, die Thea manchmal mit Angst erfüllte. Es war fast so, als ginge ein tiefer Riss durch das junge Leben, dessen Geschichte ihr nicht zu sehen vergönnt war.
Amnesie!
Thea blickte aus dem Fenster, wo sich ihr Spiegelbild von den leuchtend grünen Linden und dem frischen Weiß der gegenüberliegenden Villa abhob. Sie legte die Hand gegen die Scheibe, tastete nach der Illusion ihres Gesichts. War dieses Urteil Gnade oder Bürde?
Da hatte sie nun ein Kind, über das sie nichts wusste. Lebte mit einer Frau zusammen, über die sie nur spekulieren konnte. Sie ahnte, dass Miriam vom Vater Gewalt angetan worden war, zumindest ihrer Seele. Dass ihre Hinwendung zu Gott eine frühe Zuflucht gewesen war. »Er war schlecht zu uns«, hatte Miriam einmal gesagt. »Was hat er getan?« – »Unsere Zukunft zerstört.« Doch konnte Thea das alles glauben? Trug nicht sie selbst auch Schuld an der heutigen Situation? An Miriams Leid? Und sie konnte ihr nichts zurückgeben. Keine Geschichten von früher erzählen. Die Tage im Kindergarten lebendig werden lassen. Sich noch heute über Miriams Strahlen beim Blick in die prall gefüllte Schultüte freuen. Wehmütig lächeln bei der Erinnerung an den ersten Liebeskummer des Teenagers und dessen Befürchtung, die Welt gehe für immer unter. Nichts davon konnte Thea geben. Einzig danken konnte sie Miriam und versuchen, sie zu lieben wie eine Tochter, mit der man seit über dreißig Jahren eng vertraut war. Von der man alles wusste.
Sie musste Miriam einfach glauben. Auch dass die Polizei nur aus Routine mit ihr gesprochen hatte. Es gab keinen andern Weg als Vertrauen. Auch wenn Miriam auf ihre Nachfrage in den letzten Tagen still geblieben war, sich verschloss und in Gebete stürzte.
Thea hatte sich schon Hunderte Male gefragt, was dahintersteckte. Eine Antwort hatte sie nicht gefunden. Allenfalls Ahnungen: Erinnerungen an den Vater. Flucht aus dem mühsamen Leben als Putzfrau, das sie manchmal um fünf Uhr früh in fremden Treppenhäusern begann und nachts um eins gebückt in einem Waschsalon oder einer Nudelfabrik beendete. Sorge um sie, Thea.
Seit sie zu zweit hier lebten, rackerte Miriam sich in mehr als zwanzig Objekten ab, in manchen täglich. Sie erzählte, wie sie in dem Fitnessstudio die Chromarmaturen zum Glänzen brachte, indem sie säurehaltige Reiniger nur in kaltes Wasser gab; wie Ruß, Fett und Teer mit alkalischen Seifen vom Boden des Supermarktes verschwanden; dass der wertvolle Holzschrank eines Nachbarn so herrlich duftete, weil sie ihn mit warmem Wasser und Orangenreiniger sanft behandelte; und dass sie sich vollkommen erholte, wenn sie in den wenigen freien Stunden Klavier spielte und betete. Doch Thea wusste, dass die Putzjobs eine fast übermenschliche Belastung waren und Miriams Berichte das Schönreden einer Situation, die sie nicht mehr lange würde ertragen können. Und jetzt hatte Thea ihrer Tochter mit dem Vorwurf, sie sollte nicht so tun, als sei sie geistesgestört, noch weh getan. Miriam hatte seither kein einziges Mal mehr gelacht.
Sie löste die Hand von der Scheibe.
Ich sollte versuchen, auch Miriam ins wirkliche Leben zurückzuholen, dachte Thea Roth. Ein schöner Abend, ein offenes Gespräch, eine Entschuldigung von mir – das würde uns beiden guttun. Und meine Scham darüber mildern, dass ich in eine Rolle geschlüpft bin, deren Text ich nie gelernt habe, in die ich aber Tag für Tag perfekter hineinwachse.
Entschlossen suchte sie ein Rezept aus Miriams Lieblingskochbuch heraus, ein Gemüsecurry mit Kokos, notierte die Zutaten und klingelte kurz darauf bei Hilde Wimmer. Auch die hatte ein wenig Freude nötig, und wenn Thea Notwendiges mit Gutem verband, so konnte sie heute gleich drei Menschen glücklich machen.
Die alte Dame lächelte ihr erfreut entgegen.
»Ich gehe einkaufen. Und das möchte ich gern in netter Begleitung tun«, sagte Thea.
»Sie gute Seele.« Hilde Wimmer nickte, und vierzig Minuten
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