Mein wirst du bleiben /
Er verlor nie den Überblick. Anschließend würde er sich seinem Geschenk widmen. Dem Haus gegenüber. Der Dunkelheit.
Er schob sich an den Rand des Fensters und spähte in die Wohnungen.
Unten links flimmerte der Fernseher. Die dürre Zenker saß vor der Glotze und kratzte sich mit einem länglichen Gegenstand in der verlausten Frisur. Wahrscheinlich eine Gabel. Das Weib widerte ihn an. Fernsehen widerte ihn an. Seichte Serien. Schmutz. Er verabscheute Leute, die Befriedigung aus oberflächlichem Betrug schöpften.
Im ersten Stock erschien Miriam im Wohnzimmer. Als sie sich an das Klavier setzte, drückte er den Zigarettenstummel zwischen den Brüsten des Porzellanfrauen-Aschenbechers aus.
In der zweiten Wohnung im ersten Obergeschoss rührte sich nichts. Keine nuttige Frau mit dunkelhäutigem Muskelprotz. Kein Baby, dessen Gesicht vor Schreien rot anlief und in dessen verzerrten Falten die Tränen glänzten, während die Eltern zuerst stritten und er sie dann auf dem Teppichboden von hinten nahm und sich die Seele aus dem Leib rammelte, noch bevor sie das Oberteil ausgezogen hatte. Tiere, dachte er. Stillos.
Miriam stand ruckartig vom Klavier auf. Schlug die Hände vors Gesicht, kniete sich dann auf ein Kissen und betete, der Zopf fiel ihr über die Schulter auf die Brust.
Beten! Das tat sie immer, wenn Mama nicht da war. »Mama«, flüsterte er heiser. Die Schlampe nutzte Miriam aus, und die merkte es nicht. Jetzt saß sie oben bei der Alten, eine Zeitung in der Hand. So sozial. So menschlich. Er lachte auf. Kurz. Rauh. Punkt acht Uhr würde Mama hinuntergehen und sich verhätscheln lassen.
Er schloss den Wandschrank auf.
Klack. Klackklack. Klack.
Der Rhythmus des Schließmechanismus steigerte seine Vorfreude. Mit den Fingerkuppen strich er über das kühle Metall des Teleskops. Seit die Bullen hier herumschnüffelten, musste er doppelt vorsichtig sein. Kein Risiko. »Warte, bis es dunkel wird!«
Mit dem Laptop setzte er sich an den Tisch und öffnete den Bilder-Ordner.
Fotos von zwölf Tagen. Die neuesten klickte er zuerst an: Miriams Mund, geöffnet im Gesang. Ihre kräftigen Finger auf schwarzen und weißen Tasten. Kein Schmuck. Kurze, runde Fingernägel.
Klick.
Miriam und die Schlampe am Spülbecken. Die Schlampe nachts auf dem Balkon, im Hintergrund Küchenlicht.
Klick.
Die Schlampe im Nachthemd, einen Becher in der Hand, dessen Inhalt sie in einen Blumentopf gießt.
Klick.
Schlampe im Bett. Augen geschlossen.
Luder!
Er zoomte das Bild heran. Ein halber Millimeter dunkler Haaransatz unter Blond. Langer, rötlicher Wulst über dem Hals. Sein Lid zuckte schneller.
Er wählte die Bilder von Dienstag, dem 27. Juli. Leichenwagen vor dem Haus, Zinksarg.
Klick.
Männer in weißen Overalls.
Klick.
Ein Zivilbulle, Jeans im Used Look, dunkelorangefarbenes T-Shirt mit V-Ausschnitt, Aufschrift
2
many ways make my day.
»Falsch«, sagte er leise. »Es gibt nur einen Weg.«
Er fingerte eine neue Zigarette aus der Packung. Ließ das Feuerzeug klicken. Inhalierte tief. Spürte, wie der Rauch sich seine Luftröhre hinunterwand und das schnellere Schlagen seines Pulses.
Den Höhepunkt zögerte er gern hinaus: seine Lieblingsbilder. Montag, 26. Juli.
Erdgeschoss. Der Alte auf dem Küchenboden, die Schnauze des Köters zwischen seinen Beinen.
Klick.
Der Alte mit Schrubber in der Hand. Kaffeetasse. Kuchen.
Klick.
Die Zenker in der Küche des Alten, dicht vor einem der geöffneten Wandschränke.
Klick.
Die Wohnung in den Stunden vor Gärtners Tod. Fünfzehn Aufnahmen.
Er lehnte sich zurück. Schnippte die Asche in den weißen Körper. Der Speicher seines Rechners bot noch viel Platz.
Er blickte auf seine Armbanduhr. Maurice Lacroix. Gekauft hatte er sie während einer Tagung in Genf, aus einer Laune heraus, weil sie für Eleganz, Präzision und vollendetes Handwerk stand. »Perfekter Mann, perfektes Timing«, hatte sein Kollege und Studienfreund nach seinem Vortrag jovial lächelnd gesagt, das Cognacglas gehoben und auf das silbermatte Rund gedeutet, in dessen Mitte Datums-, Mondphasen- und Sekundenanzeige in Halbkreisbögen angeordnet waren. »Ich bin bald in Freiburg«, hatte er erwidert, »treffen wir uns auf einen Drink?« – »Wie lange bleibst du?« Er hatte mit den Schultern gezuckt: »Projektabhängig.« – »Ich bin im Frühjahr und Sommer an der John Hopkins. Forschungssemester«, hatte sein Kollege gesagt und gefragt: »Willst du meine Wohnung so lange haben?« Maximal zwei Sekunden hatte er
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