Mein wirst du bleiben /
Freitag. Der übernahm es, dem Arzt die genaueren Umstände zu berichten: von dem Unfall im November 1997 und Charlottes Tod. Und davon, dass Gärtner ermordet worden war. »Mit Nussöl – und das ist vertraulich!«, schloss Freitag.
Wittke lehnte sich zurück, sein Stuhl quietschte leise. Dann nickte er. »Dass er ein schreckliches Schicksal mit sich herumgetragen hat, war nicht zu übersehen.« Als wolle er sich für sein Unwissen rechtfertigen, hob er die Hände. »Die Praxis habe ich erst nach Charlottes Tod übernommen. Ich hatte keine Ahnung davon, dass direkt um die Ecke ein Kind gestorben war. Und dass Gärtner …«
»War er in der letzten Zeit anders? Fröhlicher? Lebhafter?«
Wittke presste die Lippen aufeinander. »Er war bei seinem letzten Besuch wie immer.«
»Haben Sie eine Idee, wer ihm Böses wollte?«
Eher ungläubig als zynisch antwortete der Arzt: »Gärtner Böses wollen? Mit dem konnte man höchstens Mitleid haben.«
Das wäre immerhin mehr gewesen, war es Ehrlinspiel durch den Kopf gegangen, als ihm im Vorbeigehen zuzuwinken und ihn drei Schritte weiter vergessen zu haben.
Die zweite Sackgasse endete im Wintergarten von Gärtners ehemaligem Chef. Der pensionierte Geschäftsführer der
Umsiedler
saß mit zitternden Händen in einem Korbstuhl. Gärtner sei ein in sich gekehrter, fleißiger und zuverlässiger Mitarbeiter gewesen. Freunde in der Firma? »Nein, er war immer ein Einzelgänger.« Während er berichtete, wackelte er permanent mit dem Kopf. Dass Gärtner damals aus dem Umzugsteam ausgeschieden war, bedauerte der glatzköpfige Mann. »Der Unfall hat dem Martin das Genick gebrochen. So wie mir der Tremor.« Erst da begriff Ehrlinspiel, dass der Mann nicht aus Fassungslosigkeit den Kopf schüttelte, sondern weil er krank war. Er vermutete Parkinson.
Auch zwei frühere Arbeitskollegen, beides Muskelpakete von Möbelschleppern, erzählten nichts anderes. Ebenso wenig wie Gärtners Vermieter, der sich kaum für die Wohnungen, geschweige denn die Menschen darin interessierte. Die monatliche Mietzahlung auf seinem Konto war alles, was ihn kümmerte. Und da hatte es mit Gärtner nie Schwierigkeiten gegeben. Gesehen hatten sich die beiden nie, sogar der Mietvertrag war 1988 per Telefon vereinbart und per Post versandt worden. Jetzt war der Mann empört gewesen, weil er mindestens einen Monat Mietausfall und eine »Drecksbude am Hals« hatte, die kein Verwandter des Toten räumen würde.
»Zwölf Tage seit der Tat, Freitag!« In Idris’ Bar drängten sich mittlerweile immer mehr Frauen und Männer mit Einkaufstaschen. Ehrlinspiel schob die leere Tasse von sich weg. »Lorena und die Zeitungen stampfen uns in den steinharten, vertrockneten Grund und Boden dieses Jahrhundertsommers. Und bei jedem Pressegespräch machen wir uns noch lächerlicher.«
Er dachte an den beleibten Zeitungsredakteur, den alle Mr. Hair nannten, weil er nie ohne Hosenträger im Amiflaggen-Muster und Gel in den schulterlangen Haaren anzutreffen war. Und offenbar hatte er eine hämische Freude daran, sein Sommerloch mit dem angeblichen Versagen der Polizei zu füllen. Wie auch andere Journalisten bat Mr. Hair ab und zu um Hintergrundinformationen zum Fall, die sie – soweit vertretbar – auch gaben.
Ehrlinspiel schlug mit der flachen Hand auf den Tresen, und ein paar Köpfe drehten sich zu ihm um. »Ach, verdammt«, zischte er. »Wir können noch nicht einmal von
uns
aus etwas an die Öffentlichkeit geben oder eine Pressekonferenz einberufen. Wir haben nichts zu sagen. Das ist doch alles …«
»Hör mal«, sagte Freitag leise, doch mit Nachdruck, »wir sind alle erschöpft und frustriert. Aber wir geben unser Bestes. Es ist nicht das erste Mal, dass der Erfolg auf sich warten lässt.«
»Ach ja?« Wut zog sich in Ehrlinspiels Bauch zusammen. Heiß und brennend, wie eine kleine, rollende Kugel. »Wie kann dir das nur so egal sein? Wir stehen da wie Versager und du –«
»Es ist mir nicht egal. Ich versuche nur, vernünftig zu bleiben. Oder ›gelassen‹, wie du ja immer von mir behauptest.«
»Gelassenheit steht aber manchmal im Widerspruch zu einem gesunden Ehrgeiz.«
»Du meinst, ich soll so ein Streber werden wie du?« Freitag grinste und bestellte sich noch einen Kakao.
Ehrlinspiel presste die Lippen aufeinander. Dass sein Freund sich in die Reihe der Neidhammel einreihte und dabei auch noch feixte, verletzte ihn. »Das soll jetzt ein Witz sein, oder?«
»Das kannst du interpretieren, wie du
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