Mein wirst du bleiben /
Torbogen.
Ein schrilles Klingeln zerriss den schweren Rhythmus ihrer Stiefel auf den Pflastersteinen. Der Lutscher fiel Hilde Wimmer auf den Teppichboden. Verstört blickte sie von der Wanduhr zum Telefon. Selten genug rief jemand an, erst recht nicht am Samstagabend um kurz vor halb zehn. Sicher verwählt.
Die Männer blieben stehen, Gesichter und Vollbärte flackerten im Feuerschein.
Das Telefon klingelte unerbittlich. Mühsam rutschte sie nach rechts, bis sie an das kleine Tischchen heranreichte. Das Kabel war verdreht, und als sie endlich »Hilde Wimmer hier« in den Hörer sprach, fiel ihr ein, dass sie den Ton des Fernsehers hätte leise stellen sollen.
»Wie schön, dass wir Sie noch erreichen. Hier ist die Praxis von Doktor Wittke.«
»So spät?« Um diese Zeit war doch niemand mehr in der Praxis.
»Wir sind immer für unsere Patienten da, Frau Wimmer.« Die Stimme klang gepresst, aber verbindlich, und sie überlegte, welches Gesicht zu ihr gehörte. »Was wollen Sie denn?«
»Können Sie noch rasch vorbeikommen?«
»Jetzt?«
»Es ist wichtig. Ja.«
»Aber warum denn?« Sie presste den Hörer fest ans Ohr.
»Frau Wimmer, es tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen. Aber die Ergebnisse Ihrer letzten Untersuchung sind, na ja, besorgniserregend. Aber lassen Sie uns das persönlich besprechen.«
Hilde wurde schwindelig. »Hat das nicht Zeit bis Montag? Ich habe doch sowieso einen Termin beim Herrn Doktor.«
»Leider nein. Ich hätte nicht angerufen, wenn es nicht eilig wäre.«
Hildes Hand zitterte, und sie musste alle Kraft zusammennehmen, sich auf ihre Finger konzentrieren, damit ihr der Hörer nicht aus der Hand glitt. »Was … was ist es denn?«
Der Fernseher flimmerte, ein Inferno roter und gelber Flammen.
»Meine Liebe, das sollten wir nicht am Telefon besprechen.«
»Werde ich sterben?« Ihr Magen zog sich zusammen und wollte alles, was darin war, in einem sauren Strom nach oben schieben. Sie schluckte dagegen an.
»Wir müssen alle sterben. Grübeln Sie nicht.« Die Stimme schien ihr betont fröhlich.
Ein Brocken Gegessenes bahnte sich seinen Weg durch die Speiseröhre bis in ihren Mund hinauf. Sie würgte und dachte, dass es schade um die Schokoladenkekse war und wie grotesk allein dieser Gedanke war. »Aber ich habe doch am Montag einen Termin –«
»Jede Stunde kann jetzt wichtig sein, liebe Frau Wimmer. Bitte, tun Sie es für sich.«
»Aber mir tut nichts weh.« Sie fühlte sich nicht schlechter als sonst. Ihre Hüfte zwickte, und die Arthritis machte ihr zu schaffen. Ihre Augen ließen nach. Aber das war nichts Neues.
»Ist Ihnen übel gewesen in den letzten Tagen?«
»Nein.«
»Beschwerden im Knie? Eine leichte Schwellung?«
»Nein.« Obwohl, wenn sie genau überlegte … »Na ja, vielleicht ein bisschen.«
»Sehen Sie. Und Sie haben sich fiebrig gefühlt. Das haben Sie bei Ihrem letzten Besuch berichtet.«
Hilde war, als verrutsche ihr Leben von einer Sekunde auf die andere.
Sie versuchte, sich an ihren letzten Besuch beim Doktor zu erinnern, doch ihre Gedanken tanzten haltlos durch das Wohnzimmer, prallten gegen den Fernseher, versengten sich im Inferno der Mattscheibe, fielen neben dem Lutscher zu Boden, klebten dort neben den Rädern ihres Gehwägelchens fest. Die dicke Arzthelferin war in der Praxis gewesen. Thea Roth auch. Und der Doktor. Aber über was hatten sie gesprochen? »Ja«, hauchte sie in den Hörer.
»Na also. Jetzt kommen Sie rasch herüber, und wir unterhalten uns in Ruhe. Dann gebe ich Ihnen ein paar Medikamente, und Sie haben eine schmerzfreie Zeit.«
»Aber ich habe doch gar keine Schmerzen«, flüsterte sie.
»Rufen Sie Ihre Begleiterin an. Sie wird Sie herbringen.«
»Ja, gut.« Eine Träne tropfte auf ihre Hand, als sie den Hörer sinken ließ. Sie starrte darauf. Ein zweiter Tropfen setzte sich auf die dünne Haut. Zerknittert wie Butterbrot bin ich, dachte sie. Und bald wird man mich wegwerfen.
Sie registrierte Geräusche, Geschrei, doch sie hörte nicht, was die Leute im Film riefen. Konnte ein Leben so schnell zu Ende gehen, ohne Vorzeichen?
Wenn es nichts Schlimmes wäre, hätten sie nicht angerufen. Und sie hatte ja tatsächlich ein bisschen Übelkeit verspürt. Sie starrte auf die Schokolade, die Kekse und das Silberpapier und glaubte, die Magensäure ätze sich durch ihren Körper hindurch bis in die Finger, die noch immer den Hörer umklammerten. Langsam legte sie ihn zurück auf die Gabel.
Dann schlug sie das vergilbte
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