Mein wirst du bleiben /
Adressbuch auf.
Dr. Wittke
stand darin, eine Notrufnummer,
Clara, Hannelore
und
Edith,
mit denen sie früher immer Canasta gespielt hatte. Sie war als Einzige übrig geblieben. Ganz unten auf der Liste stand
Thea Roth
und die Nummer ihres kleinen, silbernen Telefons.
Erneut nahm sie den Hörer ab. Die Wählscheibe kam ihr riesig vor, und jede Ziffer, für die sie ihren krummen Zeigefinger in eines der runden Löcher stecken und die Scheibe drehen musste, kostete sie Kraft.
Das Freizeichen erklang. Sie zählte mit.
Tut. Tut.
Eins. Zwei. Die Töne schienen sich eine Ewigkeit in die Länge zu ziehen.
Tut.
Drei.
Tut.
Vier. Mit jedem unbeantworteten Klingeln spürte sie, wie die Übelkeit sich weiter ausbreitete. Fünf. Sechs. Sieben. Thea Roth hatte ihr gesagt, sie könne immer anrufen, auch nachts. Acht. Gehen Sie doch ans Telefon, flehte sie stumm,
bitte.
Neuer Brechreiz kroch vom Magen ihre Speiseröhre hinauf und breitete sich im Mund aus.
Tut. Tut.
Neun. Zehn. Sie hatte sich geschworen, die gute Seele nie anzurufen. Sie wollte nicht stören. Anderen nicht zur Last fallen.
Bitte, nehmen Sie ab!
Bei sechzehn ließ sie den Hörer sinken. Frau Roth war bestimmt unterwegs, eine so schöne, alleinstehende Frau.
Sie hievte sich am Rollator hoch. Ihre Hüfte brannte vor Schmerz. Sie konzentrierte sich auf ihr rechtes Bein, setzte den Fuß auf, ging einen Schritt nach vorn. Jetzt linkes Bein, linker Fuß. Ein weiterer, kleiner Schritt.
Am Sofatisch blieb sie hängen, und Tränen schossen ihr in die Augen. Sie versuchte, sich vorzustellen, wie Thea Roth sie unterhakte und ihr half. Bei jedem Schritt. Als sie endlich an der Wohnungstür angekommen war, blickte sie auf ihre Filzpantoffeln hinunter. Aus der Naht hingen Fäden heraus, und sie schämte sich plötzlich zutiefst. So kann ich unmöglich zum Doktor gehen! Doch es gelang ihr nicht, sich zu den Schuhen zu bücken. Dann muss es auch so gehen.
Es muss.
Ich werde daran nicht sterben. Nicht daran.
Als sie eine Ewigkeit später mit dem Aufzug ins Erdgeschoss gefahren, ins Freie gehumpelt und die Haustür hinter ihr ins Schloss gefallen war, spürte sie ihr Herz schlagen. Es war die Anstrengung. Und Stolz. Sie hatte das erste Stück bewältigt. So krank konnte sie also nicht sein. Ausgeschlossen. Und die Luft war so frisch hier draußen. Viel duftiger als in der Wohnung. Blüten. Sommer. Süßes Leben! Alles würde gut!
Sie schob das Gehwägelchen bis zu der Treppe vor. Dann wusste sie nicht mehr weiter. Sie hatte nicht an die Stufen gedacht.
Hilde wandte sich um und blickte in den ersten Stock hinauf. In der Küche brannte Licht, Thea Roths Zimmer war dunkel. Sie war unterwegs, jetzt war sie sich sicher. Sollte sie bei der Tochter klingeln? Sie kannten sich kaum, und die junge Frau war immer so unnahbar. Ihre Mutter sprach wenig über sie, aber sie schien sie sehr zu lieben.
Sie zog den Rollator ein Stückchen zurück. Miriam Roth musste ihr helfen! Da spürte sie die Hand in ihrem Rücken. Keine helfende Hand. Eine harte Hand. Sie stürzte die Stufen hinunter. Prallte mit dem Kopf auf den Beton, und ihre Arme und Beine schienen ein Knäuel um sie zu bilden, das aus purem Schmerz bestand. Auf dem Zwischenabsatz blieb sie liegen. Sie hörte verzerrte Laute, ein Stöhnen und Japsen, und begriff, dass sie aus ihrem eigenen Mund kamen. Sie sah nach oben zum Haus, streckte der Gestalt den Arm entgegen. »Bitte«, flüsterte sie, doch die Wörter erstickten in dem Blut in ihrem Mund und rannen stumm ihre Kehle hinunter. Die Gestalt kam die Stufen herunter, und Hilde Wimmer versuchte, sie mit den Augen zu bitten.
Hilf, hilf!
Doch ihr Blick glitt weg, und sie verstand nicht, was geschah. Dann spürte sie einen letzten Schmerz auf der Wange, hörte das Krachen neben ihrem Ohr wie eine Explosion, spürte das Feuer zwischen ihren Rippen, bekam keine Luft mehr, fiel und fiel, in eine endlose, schwarze Tiefe.
[home]
18
22:50 Uhr
D as weiße Zelt und die Overalls leuchteten gespenstisch. Dahinter waren Fassade und Hauseingang in grelles, unwirkliches Licht getaucht. Die Kriminaltechniker hatten Flutlichtscheinwerfer aufgestellt und Grundstück und Straße mit rot-weißem Absperrband vor dem Zutritt Neugieriger gesichert. Uniformierte Polizisten hatten zusätzlich Stellung bezogen.
Ehrlinspiel und Freitag gingen über die Straße auf das Haus zu, vor dem der Kombi der KT geparkt war. Dort streiften sie sich Schutzanzüge und Füßlinge über und begrüßten die Kollegen.
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