Mein wirst du bleiben /
gesagt und sich noch ein großes Stück Emmentaler genehmigt.
»Hören Sie mir überhaupt zu«, blaffte der Hagere sie jetzt an und schlug auf die glänzende Holzplatte. »Ich habe Schmerzen! Mein Bein ist verletzt und –«
»Tut mir leid, Sie müssen –«
»Bürokratie!«, brüllte er und humpelte davon. Die Tür fiel krachend ins Schloss. Ihr Kopf drohte zu platzen.
Acht Uhr zwanzig. Gabriele blätterte in dem dicken Terminbuch.
Hilde Wimmer,
8
Uhr.
Die Alte hätte längst hier sein müssen. Nein. Nicht die Alte. Die war ihr so egal wie das verletzte Bein dieses Typen. Ihre Begleiterin wollte sie sehen. Thea Roth.
Sie wischte sich über die Stirn. Sie war schweißig. Es waren die Ausdünstungen der Angst. Der Schwäche. Und des Alkohols.
Drei Flaschen Wein. Auch heute Nacht. Aber nicht aus Erleichterung, sondern aus Panik. Denn gestern war er wieder da gewesen. Gegen einundzwanzig Uhr kam er im fahlen Licht der Laternen den Fußweg entlang. Wie immer. Er näherte sich mit stets exakt derselben Geschwindigkeit, fast wie ein Roboter. Am Müllcontainer blieb er stehen, als habe jemand den Stecker aus einer elektrischen Puppe gezogen. Fünfzehn Minuten verharrte er hinter den riesigen, schwarzen Behältern, einige Male glühte eine Zigarette auf, dann ging er in demselben Tempo davon.
Sie umklammerte die Flasche und sah ihm durch die Vorhänge hinterher, keuchend und mit feuchten Händen, als er plötzlich stehen blieb. Langsam drehte er sich um, unter einer flackernden Laterne, und hob die Hand. Dumpf war die Flasche auf dem Teppich gelandet, der Wein gluckernd herausgelaufen.
Das Telefon schreckte sie aus ihren Gedanken. Sie riss den Hörer aus der Ladeschale, er rutschte ihr aus der Hand,
verdammt,
sie nahm ihn auf und presste ihn ans Ohr. Ein neuer Patient. Keine Wimmer, keine Thea, die ihre Verspätung erklärten. Sie atmete tief durch und gab dem Anrufer einen Termin. Die Schläge gegen ihren Kopf erfolgten in dichteren Abständen.
Aus dem Medikamentenschrank im Behandlungszimmer nahm sie ein Aspirin und ein Paracetamol. Jedes Mal, wenn sie hier war, sah sie im Geist Doktor Wittke am Tisch sitzen. Sah sein Lächeln. Hörte seine Stimme, die wie Sand knirschte: »Das tägliche Glas tut Ihnen sicher gut. Nerven und Kreislauf.« Sie musste einen klaren Kopf bekommen.
Hinter ihr klickte es, sie fuhr herum.
»Guten Morgen, Frau Hofmann.«
»Morgen, Herr Doktor.« Hektisch schloss sie den Schrank und ließ die Tabletten in die Tasche ihres weißen Kittels gleiten.
»Kopfschmerzen?« Er stellte seine Tasche auf den Schreibtisch. »Bedienen Sie sich ruhig.«
»Vielleicht eine Sommergrippe.« Nicht keuchen!, befahl sie sich.
»Bestimmt.« Sein Mund verzog sich fast unmerklich, und in seinen Augen glaubte sie ein Wissen zu erkennen, das sie mit Ekel vor sich selbst erfüllte.
Sie ging zur Tür. »Soll ich den ersten Patienten schicken?«
»In fünf Minuten. Ich muss noch telefonieren.«
»Ja, Herr Doktor.«
»Ach übrigens« – er sah die Post durch, die auf seinem Tisch lag –, »ziehen Sie doch bei Gelegenheit eine neue Strumpfhose an. Das sieht etwas … ungepflegt aus.«
»Ja, Herr Doktor.« Sie schob sich hinaus und schloss leise und sanft die Tür, als könne das ihren Auftritt ungeschehen machen. Ihre Mundwinkel zuckten. Sie wusste nicht, was sie zu ihrer Verteidigung hätte sagen sollen.
Wenn Thea Roth da ist, wird alles gut, Gabi, redete sie sich ein und wusste zugleich, dass nichts gut würde. Es gab diese Momente, in denen ihr beschissenes Leben noch ein Stück weiter in die Kloake rutschte und die sie vorhersah wie die Handlung eines Groschenromans.
Sie öffnete die Tür zum Wartezimmer. Acht Uhr fünfundzwanzig. Keine Alte.
Keine Thea Roth, die ihr die ersten netten Worte des Tages schenken würde. Keine Freundin. Niemand, um sich anzuvertrauen.
Vier Minuten nach halb neun tippte sie Wimmers Nummer ein. Niemand ging ans Telefon. Sie zögerte. Wählte Roths Nummer.
»Hallo?«
Gabi fühlte sich mit einem Mal federleicht. »Einen wunderschönen guten Morgen«, begrüßte sie Thea Roth. »Praxis Doktor Wittke, Gabriele Hofmann hier.«
»Ja?«
»Frau Wimmer hatte einen Termin um acht Uhr. Ich konnte sie nicht erreichen und mache mir Sorgen.«
Am andern Ende blieb es stumm. Dann: »Sie ist tot.«
Ein Patient kam aus dem Wartezimmer. »Wie lange dauert das denn noch? Ich muss zur Arbeit! Können Sie Ihre Termine nicht koordinieren?« Sie bedeutete ihm, sich zu gedulden, doch
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