Mein wirst du bleiben /
suchte. Manchmal so durcheinander war. »Sie reden von Ihrem Vater?«
Miriam schob die Hände in die Ärmel des T-Shirts, stand mit zusammengekrümmtem Oberkörper und schien mit jedem Wort mehr zu verschwinden. »Er hat mir nie etwas getan, körperlich, nicht dass Sie das falsch verstehen. Er war kein Schläger, nicht brutal. Es war nur mein Geschrei, das ihn gestört hat, wenn er mit Mama geschlafen hat. Er hat sie auch nicht … vergewaltigt. Er hat nur immer neue Hoffnung geschürt. Dass er Liebe geben könnte. Dass wir ihm etwas bedeuteten. Aber außer diesen vereinzelten Stunden ein- oder zweimal im Monat waren wir Luft für ihn. Er ist morgens aus dem Haus gegangen ohne ein Wort, kam abends wortlos zurück, und wenn ich auf ihn zugerannt bin und ›Papa, Papa!‹ gerufen habe, hat er mich abgeschüttelt wie ein lästiges Insekt. Einmal habe ich ihm zum Geburtstag einen Kuchen gebacken. Ganz allein! Ich habe ein paar von diesen Kinderkerzen reingesteckt, die kleinen, dünnen, und ihm den Kuchen mit klopfendem Herzen auf den Frühstückstisch gestellt. Er kam rein, hat sich hingesetzt, ein Brötchen geschmiert, Kaffee getrunken, alles fast geräuschlos, das war manchmal wirklich unheimlich, aber er hat nichts gesagt. Mama hat auch nichts gesagt, nur geweint, und ich habe gewartet, dass er sich freut. Vor lauter Aufregung konnte ich nichts essen. Ich habe keine Ahnung, wie lang wir dagesessen haben, aber die Kerzen sind so weit heruntergebrannt, bis sie im Kuchen erstickt sind – und ich bin an meinen Tränen erstickt. Er hat nicht einmal zu mir herübergesehen. Ist leise aufgestanden und zur Haustür raus.«
Müller dachte, dass es vermutlich genauso schlimm war, für jemanden ein Nichts zu sein, wie körperlich misshandelt zu werden.
»Manchmal hat er nachts die Schiebetür zum Garten geöffnet, davon bin ich immer aufgewacht. Ich habe mich auf eine Spielzeugkiste gestellt und durch das Dachfenster in die Nacht hinausgesehen. Vater ist im Kreis um den Teich gelaufen, rastlos und mit riesigen Schritten, sogar im Regen manchmal, als treibe ihn jemand mit einer Viehpeitsche an. Als er wieder ins Haus ist, habe ich mich schnell ins Bett gelegt und die Augen zugepresst. Kurz danach ist die Tür aufgegangen. Ich habe seinen Atem gehört und mir vorgestellt, wie seine große Hand die Klinke umfasst und er zu mir hersieht, und gedacht, mein Herz schlägt so laut, dass er kommen und es ausschalten würde, aber er hat die Tür wieder geschlossen und ist die knarrende Treppe hinuntergegangen. Dann bin ich auf den Flur geschlichen und habe mich oben auf die Stufe gesetzt. Durch das Geländer habe ich ihn dann gesehen, wie er geschrieben hat. Bis die Vögel draußen zwitscherten und das erste Licht die Rosen im Garten in sanfte Farben tauchte. Dann hat er die Bücher, die er vollgeschrieben hat, in eine Schublade gesteckt und abgeschlossen.« Sie krümmte sich noch mehr zusammen. »Es waren Tagebücher.«
»Sie haben sie gelesen?«
Miriam hob den Blick. »Er hat uns wahrgenommen und auch nicht. Wir haben gehofft, auf ein Zipfelchen Liebe, und auch nicht. Ich glaube, Mama hätte sich früher oder später von ihm getrennt. Aber eines Morgens war er … gestorben. Kurz vor meinem elften Geburtstag.«
»Meine Güte. An was ist er denn gestorben?«
»Er war weg. Verschwunden. Wir haben ihn für tot erklärt. In den Gedanken und Gefühlen. Es war leichter so.«
»Sie haben nie wieder von ihm gehört?«
»Er ist tot!« Ihre Stimme klang, als schneide eine Klinge auf Stein.
»Verstehe.« Und er verstand tatsächlich.
»In den Tagebüchern stehen böse Dinge. Ich habe alle aufgehoben, damit ich immer weiß, wie das Leben nicht sein darf. Wie Eltern und Kinder nie miteinander umgehen sollten.«
»Und Ihre Mutter? Kennt sie die Tagebücher?« Sie würde ihr doch hoffentlich diese Zeugnisse des Schreckens nicht gezeigt haben.
Miriam zog die Hände aus den Ärmeln und trat direkt vor ihn, ihr Atem roch säuerlich. »Sagen Sie ihr nichts, ich bitte Sie! Es würde sie umbringen.« Und dann, als käme sie aus einem verzehrenden Höllenfeuer zurück in die Gegenwart, rief sie: »Wir müssen Mama suchen! Kommen Sie! Wir haben schon viel zu viel Zeit verloren.«
»Ich kann nicht, Miriam. Ich habe Termine.« Seniorenkreis. Sein Sohn, dem er versprochen hatte, den Text fürs Sommerfest zu üben. »Aber ich rufe rasch den Diakon an. Der geht mit Ihnen. Wahrscheinlich ist Ihre Mutter längst wieder zu Hause.«
Ihr Blick glitt
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