Mein wirst du bleiben /
deswegen oft gestritten.«
»Sie haben lieber allein Musik gehört.« Er erinnerte sich an ihre Erzählung, wie sie erst heimlich Klavier spielte und Thea Roth es ihr später beibrachte. Bach. Gott. Neben der Mutter ihre einzige Liebe, wie es schien. »Und später? Hatten Sie nie ein Beziehung?«
»Doch.« Sie setzte sich neben ihn, und er spürte ihren Blick wie die Berührung von Fingerkuppen auf seinem Gesicht.
»Nach der Quantenfeldtheorie bei Professor Timmermann hat er immer in der Cafeteria gesessen, am Nebentisch. Zuerst dachte ich, es sei Zufall, aber dann –«
»Quantenfeldtheorie?« Der Seelsorger war baff. »Sie haben Physik studiert?«
Er hatte schon so oft mit Miriam hier auf der Orgelbank gesessen. Doch heute erfüllte ihre Nähe ihn mit Hilflosigkeit, und seine Brust fühlte sich an, als läge der Fels auf ihm, den Joseph vor das Grab Jesu gewälzt hatte.
»Und Theologie und Musik. Eines Tages hat er mich angesprochen. Ich habe nicht gleich verstanden, was er wollte. Aber irgendwann schon. Und dann hat er mich geküsst, und am Abend sind wir Hand in Hand durch die Gassen geschlendert und haben den Straßenmusikern gelauscht. Es war eine gute Zeit.« Sie verstummte und blickte zu den Pedalen hinunter.
»Und dann?«
»Er hatte eine andere«, flüsterte sie. »Sie haben sich über mich lustig gemacht. Darüber, dass ich so gutgläubig war. Und bieder. Dass ich nicht in Discos wollte. Dass ich … Probleme hatte, wenn wir zusammen, also … Ich konnte mich ihm nicht hingeben.«
»Verstehe.«
»Alle haben es gewusst. An allen Ecken haben sie getuschelt, und in der Vorlesung und in der Mensa haben mich tausend Augen angestarrt. Manche haben mir Zettel mit bösen Worten und Andeutungen geschrieben. Und sie haben Papierkugeln nach mir geworfen. Es war … die Hölle. Nur wusste ich nicht, warum. Was los war. Irgendwann habe ich ihn dann gefragt. Er hat alles abgestritten und geschworen, nur mich zu lieben. Kein Wort habe ich ihm geglaubt und ihn verlassen. Dann habe ich Mama alles erzählt, und sie hat mich getröstet. Da ging es mir besser.« Lange sagte sie nichts. »Er war meine große Liebe.«
Gern hätte er sie in den Arm genommen. Wieder wagte er es nicht. Helfen würde es ihr ohnehin kaum. »Das tut mir leid. Aber irgendwo auf Gottes Erde gibt es den Mann, der zu Ihnen gehört und den Sie finden werden.« Wenn Gottes Wege nur so klar wären.
»Ich brauche keinen Mann!« Sie stand auf. »Ich komme allein zurecht. Und Mama braucht mich auch.«
»Natürlich. Aber Ihrer Mutter wird es vielleicht schon bald wieder gutgehen. Sie wird sich erinnern und dann –«
»Manchmal, Herr Pfarrer … Da habe ich wieder sündige Gedanken. Dass es nicht gut wäre, wenn sie sich an alles erinnern würde, was war.«
Tobias Müller erhob sich auch. »Wir alle haben nicht nur Schönes in unserer Vergangenheit. In jeder Geschichte gibt es Unglück, Schmerz, Verluste, Konflikte. Das gehört zu uns.
« Denn Mühsal aus der Erde nicht geht und Unglück aus dem Acker nicht wächst; sondern der Mensch wird zu Unglück geboren, wie die Vögel schweben, emporzufliegen.
Hiob wusste, wovon er sprach.
»Er war … ein Mensch ohne Herz.«
Wieder bemerkte er dieses Irrlichtern in ihrem Blick. Ihr Verhalten irritierte ihn mit jeder Minute mehr. Studium dreier Fächer. So viel Power hätte er der Frau nicht zugetraut. Noch weniger verstand er, weshalb sie jetzt putzen ging und nicht an einem Forschungsinstitut oder als Lehrerin arbeitete. Und diese Halbsätze und Andeutungen. »Herzlos? Wer?«
»Für ihn haben wir gar nicht existiert. Nur wenn er Sex gebraucht hat. Dann hat er Mama angelächelt und sie berührt, wenn sie am Flügel gesessen hat, und sie ist zusammengezuckt. Sie hat immer gehofft. Geglaubt, er habe einen Funken Liebe in sich und sie sei nicht nur ein Objekt seiner körperlichen Begierden. Sie hat den Flügel zugeklappt und sich ins Schlafzimmer führen lassen. Ich habe mich hinter den großen Sessel gekauert und auf die bunten Mäander in dem Perserteppich gestarrt, die Hände auf die Ohren gepresst und gesungen, ganz laut, stundenlang, weil ich die Geräusche nicht hören wollte, die Sünde, die er an ihr beging. Bis seine Finger sich um meinen Oberarm legten, er mir die Hände von den Ohren wegzog und sagte: ›Willst du auch, Kleines?‹«
Der Mund des Pfarrers wurde trocken. Langsam begriff er, was sie mit ihrer Mutter verband. Weshalb sie ein Problem mit Intimitäten hatte. Kraft bei Gott
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