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Meine 500 besten Freunde

Meine 500 besten Freunde

Titel: Meine 500 besten Freunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johanna Adorján
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sich seitlich einen Weg durch die Menge zu bahnen, was keine Schwierigkeit darzustellen schien, da die Menschen bei seinem Anblick freiwillig einen Schritt zur Seite traten. Er gehörte deutlich zu den Ältesten im Saal. Schon bald sah sie ihn vor der Bar stehen, die sich auf der anderen Seite befand, hell stach sein weißes Hemd aus dem allgemeinen Dunkel heraus.
    Vor ihr war eine Lücke entstanden, sodass Angie jetzt freie Sicht auf die Bühne hatte. Liza Minnellis Gesicht sah tatsächlich aus wie aus Holz geschnitzt. Ihre Nase verlief seltsam aufwärts ragend, und die Wangen schienen mit irgendetwas unterpolstert zu sein. Angie notierte »Pinocchio-Nase, Augenbrauen sehen angeklebt aus« und sah dann wieder zur Bühne. Um die dünnen Beine der Sängerin schlabberte die Anzugshose, die wie das Jackett mit schwarzen Pailletten besetzt war, und dennoch nicht glamourös aussah, sondern eher wie das einzige Showtaugliche, das ihr gepasst hatte. Ihre Arme schienen überproportional lang, und sie hatte auffallend große Hände. Ab und zu hob sie ruckartig einen Arm und senkte ihn wieder. Die Bewegung wirkte, als würde sie von unsichtbaren Stöcken vom Bühnenboden aus geführt. Ticks hatte sie offenbar auch. Einen Augenblick lang schien sie zu grinsen, aber nur links, während der rechte Mundwinkel davon unberührt blieb. Und hin und wieder zuckte sie leicht mit dem Kinn zu einer Seite. Unmöglich zu sagen, wie alt sie war. Vielleicht 70? Genauso gut konnte sie weit über 100 sein. »Alter?«, notierte Angie.
    Die großen Showgesten hatte sie aber noch drauf. Ein Bein hoch und zur Seite gekickt, anderes Bein auch und zur Seite gekickt, den Hut gelüftet und mit den Hüften gekreist. Doch sie wirkten wie ein böser Witz, und alles, was von ihrer berühmten Stimme übrig geblieben war, war Luft, peinvoll genau artikulierte Luft. Da sie die Konsonanten regelrecht ausspuckte, war, was sie sang, relativ klar zu verstehen. Angie notierte »Marionette, drolliger Zwerg, tragisch«. Doch als sie sich umguckte, sah sie nur begeisterte Gesichter. Als der Song zuende war, wurde frenetisch applaudiert, es gab »Bravo«-Rufe, irgendjemand schmiss eine rote Rose auf die Bühne. Das Publikum begann, »Liza« zu rufen, bis irgendjemand »Lauter« rief, und alle lachten. Auch das notierte Angie sich.
    Li ru"#00118za Minnelli nahm den Applaus mit gesenktem Kopf entgegen und verharrte so lange regungslos in dieser Haltung, dass Angie schon zu befürchten begann, es wäre ihr etwas zugestoßen. Als das Klatschen routinierter wurde, richtete sie sich auf, und im Saal wurde es abrupt leiser und schließlich still. Langsam führte sie das Mikrophon an ihren Mund. »As you know«, sagte sie mit dunkler, rauer Sprechstimme, »Berlin will always hold a special place in my heart …« Jemand rief »We love you«, und sie zog einen Mundwinkel nach oben. »And I’m happy to see so many lovely people in the house tonight.« Ein paar Leute applaudierten. »But …« Sie ließ den Mundwinkel sinken und sah ins Publikum. Einundzwanzig, zweiundzwanzig. »But…« Sie klappte die Augen wieder auf. »There is another city in my life …« Jemand rief »New York, New York«. Liza Minnelli fasste sich an die Hutkrempe, und die berühmten ersten Takte erklangen. »Zweiter Song: New York, New York«, notierte Angie sich auf ihrem Block.
    Plötzlich, sie hatte gar nicht bemerkt, wie er herangetreten war, stand Herr Bartholomé neben ihr und hielt ihr ein Glas entgegen. »Danke«, sagte sie. Er selbst hatte sich offenbar einen Whiskey geholt, den er nun in die Luft prostend hochhielt. »›Chin Chin‹«, sagte er, in Anführungszeichen. »Chin Chin.« Sie trank einen großen Schluck. Es schmeckte anders, als sie erwartet hatte, schmeckte bitter, und sie verzog das Gesicht. »Was ist das?« »Vodka mit Soda«, sagte er. »Ah, ich wollte eigentlich … Macht nichts, egal.« Im selben Moment begann Liza Minnelli zu singen. »Start spreading the news / I am leaving today.« Angie konnte Herrn Bartholomé mitbrummen hören.
    Die Sängerin kam jetzt mit weit ausgestrecktem Arm ein paar Schritte aufs Publikum zu. Sie schien Hüftprobleme zu haben, bewegte sich vorwärts, indem sie ihren gesamten Körper von Seite zu Seite wuchtete und obwohl sie dabei flink war, fand Angie nicht auszuschließen, dass sie binnen weniger Minuten zusammenbrach. Ihr Oberkörper sah massiv aus, und sie schien Mühe zu haben, nicht unter seiner Last nach vorne zu sinken. »Freak Show«,

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