Meine 500 besten Freunde
notierte Angie, »gehört nicht auf die Bühne, sondern in ein nettes kleines Schweizer Hospital.«
»King of the hill … top of the heap«. Herr Bartholomé sang jetzt laut mit. Er sah glücklich aus. Die Ärmel seines Hemdes hatte er aufgekrempelt, er bewegte den Kopf im Takt der Musik. Zum ersten Mal gelang es Angie, sich ihn als kleinen Jungen vorzustellen. Sie sah ihn mit vor Eifer geröteten Wangen an einem Küchentisch sitzen und unter dem Lob seiner Mutter eine Modelleisenbahn zusammenbauen. »Brand new start of it«, sang Bartholomé, »in old New York.«
Nachdem auch dieser Song unter stürmischem Applaus zuende gegangen war, folgten zwei ruhigere Songs, die Angie nicht kannte, womit sie aber die Einzige im Saal zu sein schien. Angie stand mittlerweile so dicht neben Herrn Bartholomé, dass ihr Arm manchmal den seinen streifte. Sie fand es aufregend, ihn so dicht neben sich zu spüren und stellte sich vor, wie sie auf andere wirken mussten, der gut aussehende, große Mann und seine zierliche Begleiterin. Als sie irgendwann nach links sah, stand da Christine und lächelte sie ironisch an.
Bartholomé hatte Christine nun auch entdeckt und tippte sich salutierend mit flachen Fingern an die Stirn. »Super Konzert, oder?«, rief Christine ihm zu. »Was?«, rief er über Angies Kopf hinweg zurück. »Super Konzert«, rief Christine lauter. Als Antwort streckte Bartholomé einen Daumen nach oben. Angie nahm noch einen Schluck von ihrem Vodka-Soda. Neben ihr zog Christine ein Notizheft aus der Tasche und schrieb sich etwas auf. Dann steckte sie das Heft wieder weg. »Und für was schreiorzr was sbst du darüber?«, fragte sie, mit gespreiztem Du. »Für hinten oder was Größeres?« Angie zuckte mit den Achseln. »Mal sehen. Und du?« »Normale Rezension, circa achttausend Zeichen«, sagte sie. »Ist Herrmann eigentlich auch hier?« »Keine Ahnung, warum?« »Ach nur so«, sagte Christine.
Liza Minnelli saß inzwischen auf einem Barhocker, den jemand auf die Bühne getragen haben musste, während Angie nicht hinsah, und sah mit aufgerissenen Augen ins Publikum. In einer ausholenden Bewegung führte sie das Mikrophon an den Mund. »There was a man«, sagte sie und ließ eine Pause folgen. »His name was Berlin.« Sie ließ das Mikrophon sinken, doch aus dem Publikum kam keine Reaktion. »Irving Berlin.« Immer noch keine Reaktion aus dem Publikum, nur Rascheln und Husten. Sie schloss die Augen und wiegte mit dem Kopf, als erinnere sie sich an etwas, legte den Kopf in den Nacken und lachte. Als sie sich wieder aufrichtete, setzte eine von Klavier gespielte Melodie ein, und ein neuer, Angie unbekannter Song begann. »Irwin Berlin«, notierte sie sich mit Fragezeichen versehen auf ihrem Block.
Neben Herrn Bartholomé stand jetzt ein Mann, der ungefähr im gleichen Alter war. Er trug ebenfalls ein weißes Hemd, allerdings weiter zugeknöpft, hatte wenig Haare und einen leicht blasierten Gesichtsausdruck. Bartholomé fasste ihn mit einer Hand an der Schulter und beugte sich zu Angie. »Kennen Sie sich? Das ist Theodor Quast, Kollege und Freund aus alten Zeiten. Und das ist …« Er wandte sich dem Mann zu und sagte etwas, von dem Angie nur das letzte Wort verstand, »Praktikum«. Quast nickte ihr zu, und sie lächelte rasch. »Frau Ritter hat behauptet, das sei ein Geheimkonzert heute Abend.« Herr Bartholomé sprach deutlich so, dass Angie ihn verstehen sollte. »Sie hat davon auf Twitter erfahren.« Herr Quast schien amüsiert. »Kommt drauf an, was man unter geheim versteht«, sagte er. Von seinen folgenden Worten wurde das meiste von der lauten Musik übertönt. »Die gute Liza kriegt morgen die goldene … Lebenswerk … sozusagen … Auftakt.« Den Rest, der ziemlich lang war, verstand Angie nicht.
Der Song endete mit einem ewig gehaltenen Ton, dessen Vibrato verschiedene Schwingungszustände durchlief, bevor er unter lautem Applaus verklang. Nach einer angedeuteten Verbeugung ging Liza Minnelli von der Bühne ab, schnell begann der Applaus, einen Rhythmus zu finden, dazu wurde im Takt immer wieder ihr Vorname skandiert. Christine stupste Angie an. »Ich geh dann mal«, sagte sie und schob sich an ihr vorbei zu Herrn Bartholomé. Angie sah extra nicht hin, wie sie sich von ihm verabschiedete. Sie packte den Block in die Tasche, nahm ihn noch mal heraus und notierte sich ein Wort, das ihr eben eingefallen war: »Pailletten-Wahnsinn«. Als sie wieder aufsah, war Christine nicht mehr zu sehen, Herr Quast war
Weitere Kostenlose Bücher