Meine beste Feindin
dann zehn Jahre lang unsere Freundin? Das ist wirklich verrückt, würde ich mal sagen.«
Ich schrie noch nicht mal oder klang besonders gehässig. Tatsächlich war meine Stimme im Raum die ruhigste. Und dennoch war es, als hätten meine Worte ihr die Ohrfeige verpasst, von der ich kurz zuvor noch geträumt hatte.
Amy Lee schien vor meinen Augen in sich zusammenzusinken. Ihr Gesicht verzog sich merkwürdig, und es dauerte einen langen, entsetzten Moment, bis mir klar wurde, dass sie weinte.
Amy Lee weinte nie.
Sie hatte nicht geweint, als ihre Highschool-Liebe ihr Herz mit Füßen trat, als sie sich den Finger brach, und auch nicht an den Tagen des Monats, an denen ihr Körper machte, was er wollte. Nicht einmal bei ihrer eigenen Hochzeit. Amy Lee weinte nicht - das war die eiserne Regel. Sie war voller Gleichmut und grimmiger Entschlossenheit. Einmal, vor langer Zeit, hatte sie bei einem besonders eindringlichen Gespräch mit Tarotkarten und billigem Rotwein feuchte Augen bekommen, aber damals waren wir erst neunzehn, und sie gab dem Wein die Schuld.
Deshalb dauerte es eine Weile, bis ich endlich begriff, dass sie schluchzte. Ich dachte, sie hätte vielleicht nur Krämpfe, aber dann sah ich die Tränen. Ich musste Georgia nicht ansehen, um zu wissen, dass auch sie wie vom Blitz getroffen dastand - ich bemerkte plötzlich, dass sie die Finger in meinen Arm krallte und sich an mir festhielt, als hinge ihr Leben davon ab.
»Ich bin nicht verrückt«, brabbelte Amy Lee, während sie nach Luft schnappte und ihr immer neue Tränen über das Gesicht liefen. »Ich fühle mich nur total verrückt.« Sie legte beide Hände auf ihren Bauch. »Verfluchte Scheiße, ich bin schwanger!«
Wenn es möglich war, plötzlich noch leiser zu schweigen, dann taten wir das gerade. Es war, als ob Georgia und ich in diesem Türrahmen zu Stein erstarrt waren. Amy Lee schluchzte weiter, setzte sich auf ihr Bett und vergrub das Gesicht in den Händen.
»O mein Gott«, sagte ich atemlos. »Im Ernst?«
»Ich bin bald die Mutter von jemandem. Würde ich darüber Witze machen?«, fauchte Amy Lee, der es offensichtlich schon wieder besser ging. »Georgia hat immer noch Probleme mit ihrer eigenen Mutter, dabei wird sie bald dreißig …«
»Bald? Hey, im April! Lasst uns mal nichts überstürzen!«, quietschte Georgia. Sie ließ meinen Arm los, als ich sie anstarrte. »Oh, sorry, Gus.«
»Und wisst ihr was?«, sagte Amy Lee, ihrer Stimme nach zu urteilen noch immer ein wenig mitgenommen. »Ich kann nicht fassen, dass ihr beide nichts gemerkt habt! Ich hab euch doch erzählt , dass Oscar und ich es versuchen wollten!«
»Das hast du einmal erwähnt«, sagte ich eingeschnappt. »Und dann nie wieder.«
»Ich rühre seit Monaten keinen Alkohol mehr an!«, rief Amy Lee. »Eindeutiger geht es doch kaum!«
»Du hast gesagt, dass du jetzt immer fährst, damit Oscar auch mal was trinken kann«, erklärte ich. »Sorry, dass wir dich da beim Wort genommen haben. Aber was soll’s?« Ich trat einen Schritt in ihr Zimmer. »In welchem Monat bist du?«
»Und warum hast du es uns nicht einfach erzählt ?«, fragte Georgia, die sich endlich aus einem anderen Grund als ihrem Alter aus der Erstarrung löste. »Meine Güte, du bist eine wandelnde Hormonbombe. Kein Wunder, dass du auf uns losgegangen bist.«
Wir schoben uns beide ins Zimmer und ließen uns links und rechts von ihr aufs Bett sinken.
»Darf ich …«, flüsterte ich und streckte die Hand aus. Sie rieb sich wieder die Augen, nickte und legte meine Hand auf ihren Bauch, wo ich eine kleine Rundung fühlen konnte. Eine Rundung, die bei einer Figur wie meiner auf ein Wochenende mit erhöhtem Plätzchenkonsum hingedeutet hätte, bei der zierlichen Amy Lee aber etwas völlig anderes bedeutete. Ich seufzte ehrfurchtsvoll.
Mit großen Augen lehnte Georgia sich vor und legte ihre Hand neben meine. In dem plötzlich so stillen Raum war Amy Lees abgehacktes Atmen zu hören.
»Ich bin jetzt im dritten Monat«, sagte sie schließlich ruhig. »Vorher soll man es niemandem erzählen, weil noch so viel passieren kann.«
»Meinem Patenkind wird gar nichts passieren«, verkündete ich. Ich spürte, wie mir die Tränen in die Augen schossen, als ich darüber nachdachte, was das alles mit sich bringen würde. Als Amy Lee geheiratet hatte, hatte ich damals befürchtet, alles würde anders werden. Aber Oscar hatte sich als Bereicherung für unser Grüppchen herausgestellt. Ich war mir nicht sicher, wie es
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