Meine beste Feindin
Mitternacht.«
»Darum geht es nicht«, sagte ich schnell.
»Jedes Jahr um deinen Geburtstag herum bist du deprimiert«, stellte Georgia fest. »Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.«
»Vielleicht bin ich ein bisschen melancholisch«, gab ich zu und zuckte mit den Achseln. »Nächstes Wochenende steht zum ersten Mal seit Ewigkeiten nichts auf dem Programm.«
»Ich habe vor, mich nächstes Wochenende auf der Couch herumzulümmeln und mich an dem neuen Jahr zu erfreuen«, erklärte Georgia mit einem geradezu blendenden Lächeln. »Und dabei die Tatsache zu genießen, dass du klapprige dreißig bist, während ich mit meinen vitalen neunundzwanzig in der Blüte meiner Jugend stehe.«
»Wirklich? Ich hingegen werde mich auf meinem fantastischen neuen Sofa räkeln und dir als die Ältere und Weisere all deine Verfehlungen vergeben, auch wenn du es gar nicht verdient hast.« Ich gab ihr das Lächeln zurück. »Du arme verirrte Seele.«
»Brr!«, murmelte Georgia. »Das klingt ja furchtbar.«
Vergeben und akzeptieren , dachte ich, als wir uns neben dem größten Baum in der Halle platzierten. Obgleich ich Georgia damit aufgezogen hatte, glaubte ich tatsächlich, dass dies die Kernpunkte jeder Beziehung waren. Alles andere fiel unter Ego und verletzte Gefühle.
Ich musste mir meine neue, erwachsene Einstellung wieder ins Gedächtnis rufen - und zwar mit Nachdruck -, als ich am anderen Ende der Halle Nate, Helen und Henry in der Nähe eines Arrangements prachtvoller Weihnachtssterne entdeckte. Nate und Helen hielten Händchen, so wie sie es auf Henrys Party getan hatten. Helens Kleidung unterstrich ganz bewusst ihren zarten Körper und ihre großen, traurigen Rehaugen. Das Resultat ärgerte mich wie immer, allerdings durchschaute ich diesmal, wie geschickt sie den gewünschten Effekt erzielt hatte.
Wenn ich so darüber nachdachte, musste ich allerdings zugeben, dass ich es nicht mehr ganz so persönlich nahm. Also ein Fortschritt.
Nate und Henry trugen beide Smoking, damit hörten die Gemeinsamkeiten aber auch schon auf. Ich fand, Nate wirkte wie der typische missmutige Kellner, dem man am liebsten gar kein Trinkgeld geben würde und dem man letztendlich viel zu viel Trinkgeld gibt, weil er einen einschüchterte. Henry hingegen sah göttlich aus. Es war, als ob er durch seine Alltagskleidung sein Licht unter den Scheffel stellte und den Massen erst jetzt, in Abendgarderobe, seine wahre Pracht offenbarte. Er schien wahrlich von innen heraus zu leuchten.
Die Erkenntnis, dass ich mich selbst um die Möglichkeit gebracht hatte, diesen Körper je wieder zu berühren, durchfuhr mich plötzlich wie ein sengender Schmerz, der mich zu ersticken drohte.
Oscar folgte meinem Blick und seufzte.
»An der Rezeption hatte ich eine äußerst enttäuschende Unterhaltung mit Henry«, erklärte er. »Er hat behauptet, sein Ruf als männliche Schlampe sei völlig überzogen. Bis jetzt war der Typ mein Held, aber ihm zufolge war alles nur erfunden.«
»Hauptsächlich von mir«, warf Georgia fröhlich ein und zog die Augenbrauen hoch, als ich sie ansah. »Ich bin immer davon ausgegangen, dass er mit jedem Mädchen ins Bett ging, das sich ihm auf Reichweite näherte. Und das habe ich wohl auch in ganz Boston so herumerzählt. Mea culpa .« Sie sah nicht im Geringsten zerknirscht aus.
»Ich glaube, ich breche gleich in Tränen aus«, meinte Oscar.
Den wahren Henry musste ich erst einmal verdauen: ein Kämpfer für das Gute und ebenso wenig eine fiese Schlampe wie alle anderen auch. Die Vorahnung, die mich im Café mit Georgia ereilt hatte, wurde zu einer Sturmflut der Gewissheit.
»Du starrst sie doch wohl nicht immer noch an, oder?«, fragte Amy Lee und schüttelte den Kopf. Ihrem Gesichtsausdruck nach nahm sie an, es ginge immer noch um Nate.
»Doch, das tue ich«, antwortete ich und sah sie herausfordernd an. »Aber es ist nicht so, wie du denkst. Helen und Nate sind mir eigentlich egal. Ich liebäugle eher mit Henry.«
»Aber …« Amy Lee drehte sich zu Georgia um.
Die wedelte unbekümmert mit der Hand. »Bin drüber hinweg.«
Amy Lee öffnete den Mund und schloss ihn dann hörbar wieder.
»Du darfst natürlich liebäugeln, mit wem auch immer du willst«, sagte sie dann nach kurzem Schweigen. Großmütig. »Ich werde allerdings Zeit brauchen, um die reflexartige Anwendung von Schimpfwörtern abzustellen, das ist alles.«
»Ich möchte nur erwähnen, dass ich ihn immer schon toll fand«, warf Oscar ein. »Und das
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