Meine Brüder, die Liebe und ich - Higgins, K: Meine Brüder, die Liebe und ich
bleiben.
Nach gefühlten Monaten – eigentlich waren es nur ein paar Stunden – bin ich aus dieser Hölle erlöst und stehe blinzelnd in der hellen Nachmittagssonne. Die Bäume entlang der Hauptstraße tragen ein üppiges Grün. Die Luft ist klar und trocken, und der Himmel leuchtet in so reinem Blau, dass einem das Herz aufgeht. Vögel zwitschern über den Verkehrslärm hinweg, während Pendler hin und wieder aus den verstopften Straßen ausscheren und über die Brücke nach Jurgenskill fahren. Der Hudson zieht frisch und kühl neben der River Road dahin. Ich kann es kaum erwarten, nach Hause zu kommen und rudern zu gehen.
Plötzlich höre ich quietschende Bremsen und dann einen lauten Knall. Ein Auto ist in eine der Betonleitwände entlang der großen Baustelle gedonnert. Während ich noch erschrocken dastehe, fährt ein weiterer Wagen auf. Lautes Hupen ertönt.
Ich renne auf den Unfall zu und wähle dabei auf meinem Handy automatisch 911, was mir erst auffällt, als eine weiblicheStimme der Notrufzentrale erklingt. „Auffahrunfall an der Ecke River und Langdon Street, zwei Wagen beteiligt“, sage ich und springe über ein Bündel Zeitungen, das jemand auf dem Gehweg liegen gelassen hat. „Ein Auto ist in die Absperrung gefahren, ein weiteres hinten drauf. Möglicherweise gibt es Verletzte.“
„Ich lasse sofort eine Einheit der Feuerwehr kommen“, sagt die Frau vom Notruf.
Ich schiebe mein Handy wieder in die Tasche. Der Verkehr ist zum Erliegen gekommen, einige Leute steigen aus ihren Fahrzeugen, um zu gaffen. Der Fahrer des zweiten Unfallwagens steigt aus und hat bereits sein Handy am Ohr.
Aus dem ersten Auto ist noch niemand ausgestiegen.
Überall liegen Glasscherben. Das erste Auto sieht aus wie eine zusammengedrückte Bierdose. Ich gehe zur Fahrertür. Die Fahrerin ist bewusstlos.
„Ma’am?“, sage ich mit zitternder Stimme. „Sie hatten einen Unfall. Äh … ich … ich bin Sanitätshelferin. Mein Name ist Chastity.“ Die hintere Seitentür ist eingedellt, aber als ich kräftig daran rüttle, geht sie auf. „Ich werde jetzt Ihren Kopf stützen, okay?“
Die Frau kommt wieder zu sich. „Was ist passiert?“, fragt sie benommen.
„Sie sind gegen die Absperrung gefahren“, sage ich. „Können Sie mir Ihren Namen nennen?“
„Mary“, antwortet sie. „Mary Dillon.“
Warmes, klebriges Blut tropft auf meine Hände, während ich ihren Kopf stabilisiere, sodass sie geradeaus schaut. Mein Mund ist so trocken wie Sandpapier, und meine Beine zittern. „Haben Sie Schmerzen, Mary?“
„Ein bisschen“, sagt sie. „Mein Kopf tut weh.“
„Was ist mit ihrem Bauch? Haben Sie dort Schmerzen oder ein Spannungsgefühl?“
„Nein. Aber meine Schulter tut weh. Die linke.“
„Aha“, sage ich. „Das kommt vermutlich vom Sicherheitsgurt. Was ist mit Ihrem Hals?“
„Tut auch ein bisschen weh.“ Sie versucht, den Kopf zu drehen, aber ich halte ihn fest.
„Bitte nicht den Kopf bewegen, okay, Mary? Sehen Sie einfach weiter geradeaus.“ Meine Stimme klingt wieder einigermaßen normal. Das Blut scheint langsamer zu tropfen, aber ich kann nicht riskieren, genauer hinzusehen. „Der Krankenwagen ist schon unterwegs. Gleich kommt Hilfe.“ Ich überlege. „Wissen Sie, welcher Tag heute ist?“
„Äh … Donnerstag. Der elfte Juli.“
„Großartig. Wie alt sind Sie?“
„Fünfunddreißig. Sieht es schlimm aus?“, will sie wissen. In ihrer Stimme schwingt Angst. „Stimmt etwas nicht mit meinem Hals?“
„Sie hatten einen Auffahrunfall, da muss man immer erst Hals und Rücken überprüfen. Aber das sind reine Vorsichtsmaßnahmen. Für mich sieht alles gut aus“, sage ich. „Die Feuerwehr ist unterwegs. Die werden sich gut um Sie kümmern.“
Um uns hat sich eine Menschenmenge angesammelt. Der Fahrer des zweiten Unfallwagens späht durchs Fenster. „Kann ich helfen?“, fragt er.
„Ist ein Arzt oder Rettungssanitäter in der Nähe?“, frage ich zurück.
„Ich frage mal nach“, sagt er und mischt sich unter die Leute. Ich höre, wie er herumfragt, doch niemand meldet sich.
Ich versuche mich zu erinnern, was ich noch tun kann. Oh Gott! Das war so viel! „Mary, können Sie sich erinnern, was passiert ist? Waren Sie bewusstlos?“
„Oh, verdammt“, sagt sie. „Ich habe nach meinem Handy gesucht. Wie dumm von mir!“
„Aha, erwischt. Nehmen Sie irgendwelche Medikamente?“
„Nur Vitamine.“
„Haben Sie Vorerkrankungen? Hohen Blutdruck, Schwindel, irgend so etwas?
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