Meine Familie, der tägliche Wahnsinn und ich - Gesamtedition (German Edition)
zu betrunken oder macht sich nichts daraus, dass Holger weniger zu sein scheint, als er vorgibt. Ihr müsste doch zumindest das gefakte Shirt auffallen.
„Haste mal nen Kuli? Er hat sein Handy nicht dabei“, fordert Linda.
„Du, es ist ja auch schon ziemlich spät. Sollen wir nicht nach Hause fahren? Gibt ihm deine Handynummer und dann gehen wir.“
Ich bringe es nicht über mich, Linda bei dieser Ausgeburt schlechten Geschmackes zurückzulassen.
„Ich will aber noch nicht gehen.“
„Findest du nicht, dass der Typ ein bisschen merkwürdig ist? Wie der schon tanzt. Und wieso hat er kein Handy dabei? Das ist doch komisch. Welcher vernünftige Mensch verlässt das Haus ohne Telefon? Mit dem Kerl stimmt was nicht“, flüstere ich beschwörend.
Linda zieht eine Augenbraue hoch. „Wieso? Ich finde ihn nett.“ Zur Bestätigung rückt sie ein bisschen näher an ihn ran. Linda hat sich Holger eindeutig schön getrunken.
„Ich bin für eine große, bekannte Organisation tätig“, äffe ich ihn nach. „Die Firma, die nicht genannt werden darf“, spotte ich weiter. „Arbeitet er für Lord Voldemort, oder was? Lass lieber die Finger von ihm. Todesser können sehr gefährlich werden und ich weiß nicht, ob mein Patronus Zauber auf einen wie den wirkt.“
„Ha, ha, sehr witzig. Nun rück schon den Kuli raus. Ich will ihn ja nicht direkt heiraten.“
Genau das ist das Problem. Linda wird nie geheiratet. Linda ist „die Andere“, der fleischgewordene Ehefrauenalptraum. Ich persönlich pflege dieser Gattung Frau vorzubeugen. Wenn Frau Mayer, zum zweiten Mal geschieden und mit wechselnden Männerbekanntschaften, beim Unkrautjäten im Vorgarten ihren Jennifer Lopez Gedächtnis Hintern wieder mal allzu auffällig in die Höhe streckt, lasse ich abends wie zufällig „eine verhängnisvolle Affäre“ auf DVD laufen. Ich finde, Ehemänner können diesen Film gar nicht oft genug anschauen.
Linda nimmt den Kuli und malt feinsäuberlich ihre Telefonnummer auf einen Bierdeckel. Dabei legt sie den Kopf schief, lässt die Zunge heraushängen. Genauso angestrengt sieht Sara aus, wenn sie sich für ein Bild besonders viel Mühe gibt. Linda würde sich nie verzeihen, wenn sein Anruf wegen unleserlicher Handschrift ausbleiben würde. Wäre nicht das erste Mal. Man könnte meinen, auf Lindas Telefonnummer lastet ein Fluch. Sie wurde schon vom Hund aufgefressen, ist aus der Jackentasche gefallen und versehentlich in der Jeans mit gewaschen. Gott sei Dank, lässt Linda niemals locker und mit Hilfe von Facebook, Xing, Friendscout und co. macht sie in 90% der Fälle die Gegenseite ausfindig. Ob die wollen oder nicht.
„Du, ich gehe jetzt“, starte ich einen letzten Versuch.
„Wenn du meinst.“
„Ich könnte uns draußen ein Taxi rufen.“
„Fahr ruhig, ich bleibe noch etwas.“
Sie dreht mir den Rücken zu und flirtet mit Holger. Mir passt es nicht, sie zurück zu lassen. Klar, Linda ist alt genug und wahrscheinlich habe ich einfach zu viel Tatort geschaut.
Ich betrete den weiß gefliesten, eiskalten Raum. In der Mitte steht eine tuchbedeckte Bahre. Ein Mann im Kittel steht mit ernster Miene daneben. Ballauf nickt ihm kurz zu. Der Kittelmann tritt an die Bahre heran, schlägt langsam das Laken zurück. Der Schrei, der sich durch meine Kehle frisst, bleibt stecken. Geschockt beuge ich mich über den leblosen, nackten Körper. Lindas blondiertes, halblanges Haar umrahmt das fahle Gesicht. Ein dunkler, nachgewachsener Haaransatz ist erkennbar. Sollte ihr Leichnam aufgebahrt werden, werde ich dafür sorgen, dass der Bestatter da nochmal Hand anlegt. Linda legte immer viel Wert auf eine perfekte Erscheinung. Das bin ich ihr schuldig.
Ihre Lippen und Augenlider sind geschlossen. An dem schneeweißen Hals kann man deutlich die blau-schwarzen Würgemale erkennen. Schenk legt vorsichtig seine Hand auf meine Schulter.
„Ist sie das?“
Ich nicke. Mein Schluchzen schallt durch den Raum. „Und ich habe ihr noch gesagt, dass mit dem Typ etwas nicht stimmt. Er konnte ja nicht mal richtig englisch.“
„Warum haben Sie sie dann alleine gelassen?“, fragt Ballauf sanft, aber ich höre deutlich den vorwurfsvollen Unterton in seiner Stimme heraus.
„Versprich mir, dass du ihn nicht mit nach Hause nimmst“, fordere ich.
Linda verdreht die Augen.
„Versprich es.“
Als Linda nicht reagiert, halte ich mein Handy direkt vor Holgers Nase und schieße ein Nahaufnahmefoto. Er weicht
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