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Meine geheime Autobiographie - Textedition

Meine geheime Autobiographie - Textedition

Titel: Meine geheime Autobiographie - Textedition Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Twain
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himmlischer Ort zum Waten, wo es auch Badestellen gab, die uns verboten waren und gerade deshalb oft von uns aufgesucht wurden. Denn wir waren kleine Christenkinder, denen schon früh der Wert verbotener Früchte beigebracht worden war.
    In der kleinen Blockhütte wohnte eine bettlägerige weißhaarige Sklavin, die wir täglich besuchten und voller Ehrfurcht betrachteten, denn wir glaubten, dass sie mehr als tausend Jahre alt war und noch mit Moses gesprochen hatte. Die jüngeren Neger vertrauten auf diese Zahlen und hatten sie gutgläubig an uns weitergegeben. Wir akzeptierten sämtliche Einzelheiten, die wir über die Alte erfuhren, und so nahmen wir an, dass sie ihre Gesundheit auf der langen Wüstenreise aus Ägypten eingebüßt und nicht wiedererlangt hatte. Auf dem Scheitel hatte sie eine runde kahle Stelle, und wir pflegten uns heranzuschleichen, diese in andächtigem Schweigen zu bestaunen und uns zu fragen, ob sie wohl von dem Schreck herrührte, mit ansehen zu müssen, wie der Pharao ertrank. Nach Südstaatenart nannten wir sie Tante Hannah. Sie war abergläubisch wie die anderen Neger und wie diese tief religiös. Wie die anderen setzte sie großes Vertrauen ins Gebet und bediente sich seiner in allen gewöhnlichen Zwangslagen, nicht jedoch in Fällen, wo absolute Gewissheit über den Ausgang geboten war. Wann immer sich Hexen in der Umgebung aufhielten, wickelte sie die Reste ihrer Wolle mit einem weißen Faden zu kleinen Büscheln zusammen, was den Hexen unverzüglich ihre Macht nahm.
    Alle Neger waren unsere Freunde und die in unserem Alter in Wirklichkeit Kameraden. Ich sage »in Wirklichkeit« und verwende den Ausdruck als Einschränkung. Wir waren Kameraden und doch keine Kameraden; Hautfarbeund sozialer Status zogen eine Trennlinie, welcher sich beide Parteien unterschwellig bewusst waren und die eine völlige Verschmelzung unmöglich machte. Wir hatten einen treuen und liebevollen guten Freund, Verbündeten und Ratgeber in »Onkel Dan’l«, einem Sklaven mittleren Alters, dessen Verstand der beste im Negerquartier war, dessen Mitgefühl tief und warm war und dessen Herz keine Arglist kannte. Er hat mir all die vielen, vielen Jahre gut gedient. Ich habe ihn seit mehr als einem halben Jahrhundert nicht mehr gesehen, und doch habe ich geistig einen guten Teil dieser Zeit seine willkommene Gesellschaft genossen, ihn in Büchern unter seinem Namen und als »Jim« verewigt und ihn überall mit hingekarrt – nach Hannibal, auf einem Floß den Mississippi hinab und sogar in einem Heißluftballon quer über die Sahara –, und all das hat er mit jener Geduld und Güte und Treue ertragen, die sein Geburtsrecht war. Auf der Farm wuchs meine tiefe Zuneigung zu seiner Rasse und meine Wertschätzung ihrer besonderen Eigenheiten. Diese Empfindung und diese Wertschätzung haben sechzig Jahre und länger jeder Prüfung standgehalten und keine Einschränkung erfahren. Ein schwarzes Gesicht ist mir heute so willkommen wie damals.
    In meiner Schulzeit empfand ich keine Abneigung gegen die Sklaverei. Es war mir nicht bewusst, dass etwas daran verkehrt sein könnte. Mir kam nichts dergleichen zu Ohren; die Lokalzeitungen prangerten sie nicht an; von der Kanzel wurde uns beigebracht, dass Gott sie billige, dass sie eine heilige Sache sei und ein Zweifler nur in die Bibel zu schauen brauche, um sein Gemüt zu beruhigen – und um die Angelegenheit abzuschließen, wurden die Texte laut vorgelesen. Falls die Sklaven selbst Abneigung gegen die Sklaverei empfanden, dann waren sie klug und sagten nichts. In Hannibal sahen wir nur selten, dass ein Sklave schlecht behandelt wurde, auf der Farm nie.
    Allerdings gab es in meiner Kindheit einen kleinen Zwischenfall, der mit dem Thema zu tun hatte und der einen nachhaltigen Eindruck bei mir hinterlassen haben muss, sonst wäre er mir nicht all die langsam dahinziehenden Jahre im Gedächtnis geblieben, klar und deutlich, lebhaft und scharf umrissen. Bei uns war ein kleiner Sklavenjunge, den wir von jemandem in Hannibal gemietet hatten. Er stammte von der Ostküste Marylands, warseiner Familie und seinen Freunden weggenommen und quer über den halben amerikanischen Kontinent verkauft worden. Er war ein fröhlicher Geist, gutartig und sanft und vielleicht das lärmendste Geschöpf, das es je gegeben hat. Den lieben langen Tag sang, pfiff, johlte, jauchzte, lachte er – es war nervtötend, zerstörerisch, unerträglich. Eines Tages schließlich verlor ich die Geduld, lief

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