Meine geheime Autobiographie - Textedition
Erleben aus, dabei hätte er nur einen Moment innehalten und nachdenken müssen, denn im Leben eines Knirpses von zweieinhalb Jahren mag es vielleicht ein beeindruckendes und bleibendes Abenteuer sein, gibt er es jedoch als sein eigenes Erlebnis aus, macht es die Person, der es widerfuhr, nicht gerade zum Helden, denn dass ein junger Mann von zwölfeinhalb Jahren zurückgelassen wird, hat nichts Heldenhaftes oder Grauenerregendes an sich. Meinem Bruder fiel die Diskrepanz nicht auf. Es ist kaum zu glauben, dass er das Ganze als sein eigenes Abenteuer aufschreiben konnte und nicht weiter über die Umstände nachdachte – doch offenkundig hat er’s getan, und so steht es denn in seiner Autobiographie als das eindrucksvolle Abenteuer eines zwölfeinhalbjährigen Kindes.
Montag, 26. Februar 1906
Susy kommt mit ihrer Mutter und ihrem Vater nach New York – Tante Clara
besucht sie im Everett House – Tante Claras Pech mit Pferden – Der Bus-Vorfall
in Deutschland – Tante Clara wegen eines Reitunfalls vor dreißig Jahren
jetzt krank im Hoffman House – Mr. Clemens nimmt Susy mit
zu General Grant – Mr. Clemens’ Bericht über seine Unterredung mit
General Grant – Mr. Clemens gibt seine erste Lesung in New York –
Erzählt auch von einer in Boston – Ein Denkmal für Mr. Longfellow –
Und einer Lesung in Washington
Aus Susys Biographie
Papa traf Vorbereitungen, um am 1. Mai am Vassar College zu lesen, und ich begleitete ihn. Wir fuhren über New York City. Mama begleitete uns nach New York und blieb zwei Tage dort, um Einkäufe zu machen. Am Dienstag brachen wir um ½ drei nachmittags auf und kamen gegen ¼ nach sechs in New York an. Papa fuhr vom Bahnhof direkt zu General Grant, und Mama und ich fuhren zum Everett House. Zum Abendessen kam Tante Clara zu uns aufs Zimmer.
Es ist dieselbe Tante Clara, die bereits mehrere Male erwähnt wurde. Sie war seit frühester Kindheit Spielgefährtin und Schulkameradin meiner Frau gewesen und etwa in demselben Alter wie sie oder zwei, drei Jahre jünger – geistig, sittlich, seelisch und in jeder anderen Hinsicht eine überragende und liebenswerte Persönlichkeit.
Menschen, die glauben, dass es so etwas wie Glück und Pech nicht gibt, haben ein Recht auf ihre Meinung, obwohl ich finde, dass sie dafür erschossen gehören. Aber das ist selbst wieder nur eine Meinung; sie hat nichts Bindendes. Clara Spaulding hatte in allem so viel Glück wie der Durchschnittsmensch, ausgenommen eins; mit Pferden hatte sie nur Pech. Es verfolgte sie wie eine Krankheit. Von Zeit zu Zeit warf ein Pferd sie ab. Von Zeit zu Zeit gingen Kutschpferde mit ihr durch. Wiederholt gingen Omnibuspferde mit ihr durch. Meistens kam dabei genau eine Person zu Schaden, und dieser Part fiel immer ihr zu. Einmal in Deutschland (ich glaube, es warin Worms) brach unsere kleine Familie vom Gasthaus zum Bahnhof auf. Unser Fortbewegungsmittel war ein großer langer Omnibus, der von einem Gespann mit vier kräftigen Pferden gezogen wurde. Alle Plätze waren besetzt, insgesamt gut zwei Dutzend, möglicherweise ein oder zwei Personen mehr. Scherzhaft sagte ich zu Clara Spaulding: »Ich glaube, du solltest zu Fuß zum Bahnhof gehen. Es ist nicht recht, dass du eine so friedfertige Gruppe wie diese in Lebensgefahr bringst.« Als wir eine viertel Meile gefahren waren und uns rasant einer Steinbrücke ohne Brüstung näherten, ging das Gespann durch und verfiel in Galopp. Wir sahen die langen Zügel am Boden schleifen und einen Bauernjungen, der hinterherrannte und sie zu packen versuchte. Endlich war er erfolgreich, und zwar keinen Augenblick zu früh, denn der Bus hatte bereits die Brücke erreicht, als der Junge die Ausreißer zum Stehen brachte. Zwei Dutzend Menschenleben waren gerettet. Niemand machte Anstalten, eine Sammlung durchzuführen, doch schlug ich unserem Freund und Ausflugsgefährten – einem amerikanischen Konsul in einer deutschen Stadt – vor, dass wir aussteigen und dem Bauernjungen ein Trinkgeld geben. Der Konsul sagte mit dem für ihn charakteristischen Enthusiasmus:
»Bleiben Sie, wo Sie sind. Ich kümmere mich darum. Seine gute Tat soll nicht unbelohnt bleiben.«
Er sprang hinaus, erledigte die Sache, und wir setzten unsere Fahrt fort. Hinterher fragte ich ihn, was er dem Bauern gegeben hatte, damit ich ihm meinen Anteil zahlen konnte. Er sagte es mir, und ich bezahlte. Das war vor achtundzwanzig Jahren, und weder damals noch heute habe ich diese Ausgabe jemals gespürt oder
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