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Meine geheime Autobiographie - Textedition

Meine geheime Autobiographie - Textedition

Titel: Meine geheime Autobiographie - Textedition Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Twain
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meiner Bücher mit dem Titel
Alte Zeiten auf
dem Mississippi
habe ich darüber berichtet. Aber es ist unwahrscheinlich, dass ich in diesem Buch von dem Traum erzählt habe. Ich werde Miss Lyon bitten nachzuschauen – aber jetzt will ich weitermachen und den Traum diktieren, und wenn sich herausstellt, dass ich ihn bereits veröffentlicht habe, kann er in den Papierkorb wandern. Ich meine, dass ich ihn unmöglich schon veröffentlicht haben kann, denn ich wollte nie, dass meine Mutter von diesem Traum erfährt, und sie lebte noch mehrere Jahre, nachdem ich den Band veröffentlicht hatte.
    Meinem Bruder Henry, der zwei Jahre jünger war als ich, hatte ich eine Stelle auf der
Pennsylvania
verschafft. Es war keine einträgliche Stelle, es war nur eine Stelle mit Aussichten. Er war »Mudd«-Gehilfe. Mudd-Gehilfen bezogen kein Gehalt, standen aber zur Beförderung an. Sie konnten schon bald dritter Gehilfe, zweiter Gehilfe und schließlich Hauptgehilfe werden – das heißt Purser. Der Traum setzte ein, als Henry seit etwa drei Monaten Mudd-Gehilfe war. Wir lagen im Hafen von St. Louis. Lotsen und Steuermänner hatten während der drei Tage, die das Schiff im Hafen von St. Louis oder New Orleans lag, nichts zu tun, der Mudd-Gehilfe dagegen musste seine Arbeit im Morgengrauen antreten und im Schein von Kiefernfackeln bis in die Nacht hinein fortsetzen. Henry und ich, ohne Geld und Gehalt, hatten uns, solange wir im Hafen lagen, als Nachtgäste bei unserem Schwager Mr. Moffett einquartiert. Unsere Mahlzeiten nahmen wir an Bord ein. Nein, ich meine,
ich
wohnte im Haus, nicht Henry. Er verbrachte nur die
Abende
von neun bis elf im Haus, dann ging er zum Schiff, um für seine Früharbeit bereit zu sein. In der Nacht des Traums brach er um elf auf und verabschiedetesich wie üblich, indem er der Familie die Hände schüttelte. Vielleicht sollte ich erwähnen, dass Händeschütteln zum Abschied nicht nur in dieser Familie, sondern in der ganzen Region Brauch war – ich könnte auch sagen, in Missouri. Bis dahin hatte ich in meinem ganzen Leben nicht gesehen, dass je ein Mitglied der Familie Clemens ein anderes geküsst hätte – mit einer Ausnahme. Als mein Vater in unserem Haus in Hannibal im Sterben lag – am 24. März 1847 –, legte er meiner Schwester den Arm um den Hals, zog sie zu sich herab, küsste sie und sagte: »Lasst mich sterben.« Daran erinnere ich mich, und ich erinnere mich an das Todesröcheln, das unmittelbar auf diese Worte folgte, die seine letzten waren. Henrys Abschiede erfolgten im Wohnzimmer der Familie im ersten Stock, und danach verließ er ohne weiteres Zeremoniell das Zimmer und ging nach unten. Diesmal aber begleitete ihn meine Mutter bis zum oberen Ende der Treppe und verabschiedete sich
erneut
. Meiner Erinnerung nach bewog etwas in Henrys Verhalten sie dazu, und während er die Treppe hinunterging, blieb sie stehen. Als er zur Haustür gelangte, zögerte er, stieg die Treppe wieder hinauf und schüttelte ihr noch einmal die Hand.
    Als ich am Morgen erwachte, hatte ich geträumt, und der Traum war so lebhaft, so wirklich, dass ich mich täuschen ließ und ihn für Wirklichkeit hielt. In meinem Traum hatte ich Henry als Leichnam gesehen. Er lag in einem Metallsarg. Er war in einen meiner Anzüge gekleidet, und auf seiner Brust lag ein großer Blumenstrauß, lauter weiße Rosen mit einer roten Rose in der Mitte. Der Sarg stand auf zwei Stühlen. Ich zog mich an und bewegte mich zur Tür, weil ich hineingehen und ihn betrachten wollte, aber dann besann ich mich anders. Ich glaubte, die Begegnung mit meiner Mutter nicht ertragen zu können. Ich wollte eine Weile warten und mich auf diese Prüfung vorbereiten. Das Haus lag in der Locust Street, ein Stück weit oberhalb der 13. Straße, ich lief zur 14. Straße und erreichte die Mitte des dahinterliegenden Häuserblocks, als plötzlich die Erkenntnis aufblitzte, dass nichts davon wirklich war – es war ja nur ein Traum. Das dankbare Aufwallen der Freude in diesem Augenblick verspüre ich heute noch und verspüre heute noch den Rest des Zweifels, des Argwohns, dass es vielleicht
doch
wirklich war. Fast rennend kehrte ich zum Haus zurück, flog, zwei, drei Stufen aufeinmal nehmend, die Treppe hinauf, stürzte ins Wohnzimmer – und war erleichtert, denn da stand kein Sarg.
    Wir machten die übliche ereignislose Fahrt nach New Orleans – nein, sie war nicht ereignislos, denn während der Fahrt hatte ich den Streit mit Mr. Brown, 6 der mit seiner

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