Meine geheime Autobiographie - Textedition
der aus lauter weißen Rosen bestand, und in der Mitte war eine rote Rose, und die legte sie ihm auf die Brust.
An jenem Abend im Club erzählte ich den Traum genau so, wie ich ihn hier erzählt habe.
15. Januar 1906
Rev. Dr. Burton drehte sein Löwenhaupt zu mir um, heftete seinen Blick auf mich und fragte:
»Wann ist das passiert?«
»Im Juni 58.«
»Das ist viele Jahre her. Haben Sie die Geschichte seitdem mehrfach erzählt?«
»Ja, ziemlich oft.«
»Wie oft?«
»Ich weiß nicht mehr wie oft.«
»Dann ermitteln Sie einen Durchschnittswert. Wie oft im Jahr, glauben Sie, haben Sie sie erzählt?«
»Nun, ich habe sie bestimmt sechsmal im Jahr erzählt, vielleicht öfter.«
»Gut, dann haben Sie sie seit damals also, sagen wir, siebzig- oder achtzigmal erzählt?«
»Ja«, antwortete ich, »das ist eine vorsichtige Schätzung.«
»Nun denn, Mark, vor vielen, vielen Jahren ist mir etwas sehr Außergewöhnliches passiert, und ich habe es jedes Jahr mehrfach – also ziemlich oft – erzählt, denn es war so wunderbar, dass es die Zuhörer immer erstaunte, und dieses Erstaunen bereitete mir jedes Mal ungetrübte Freude. Ich hätte nie vermutet, dass dieser Geschichte aufgrund der Wiederholung neue Vorzüge zugewachsen waren, bis mir eines Tages, nachdem ich sie schon zehn oder fünfzehn Jahre lang erzählt hatte, in den Sinn kam, dass ich entweder alt wurde und langsamer im Vortrag oder dass die Geschichte länger dauerte als zu der Zeit, da sie entstanden war. Mark, ich prüfte die Geschichte sorgfältig und andächtig und kam zu folgendem Ergebnis: dass ihre Proportionen,soweit ich feststellen konnte, inzwischen zu einem Teil Tatsache waren, einfache Tatsache, reine und ungeschönte Tatsache, goldene Tatsache, und zu vierundzwanzig Teilen Ausschmückung. Danach habe ich die Geschichte nie wieder erzählt – ich konnte sie nie wieder erzählen, denn ich hatte das Vertrauen in sie verloren, und so war die Freude an ihr dahin, für immer dahin. Wie viel an Ihrer Geschichte ist Ausschmückung?«
»Nun«, sagte ich, »ich weiß es nicht. Ich glaube nicht, dass irgendetwas daran Ausschmückung ist. Ich glaube, es verhält sich genau so, wie ich es erzählt habe, Detail für Detail.«
»Na schön«, sagte er, »dann ist es ja gut, aber ich würde sie nicht mehr erzählen; denn wenn Sie damit fortfahren, wird sie bestimmt Ausschmückungen ansetzen. Am sichersten ist es, jetzt damit aufzuhören.«
Das war vor vielen Jahren. Und heute habe ich den Traum zum ersten Mal erzählt, seit Dr. Burton mir so arge Zweifel an ihm eingeflößt hatte. Nein, ich glaube nicht, dass ich das sagen kann. Ich glaube nicht, dass ich an den springenden Punkten des Traums wirklich jemals irgendwelche Zweifel hegte, denn diese Punkte sind so beschaffen, dass sie
Bilder
sind, und an Bilder, wenn sie lebhaft sind, kann man sich viel besser erinnern als an Bemerkungen und unbewiesene Tatsachen. Obwohl es schon so viele Jahre her ist, dass ich den Traum erzählt habe, sind mir diese Bilder noch so deutlich vor Augen, als stünden sie in diesem Zimmer vor mir. Dabei habe ich nicht einmal den ganzen Traum erzählt. Das war noch nicht alles. Ich meine, ich habe nicht alles erzählt, was bei der Erfüllung des Traums geschah. Ich möchte ein Detail nach dem Vorfall in der Totenkammer erwähnen, nämlich dieses. Als ich mit dem Sarg in St. Louis eintraf, war es ungefähr acht Uhr morgens, und ich rannte zu den Geschäftsräumen meines Schwagers in der Hoffnung, ihn dort vorzufinden, verpasste ihn jedoch, denn während ich auf dem Weg zu seinem Büro war, war er auf dem Weg vom Haus zum Schiff. Als ich wieder am Schiff eintraf, war der Sarg verschwunden. Er hatte ihn zu seinem Haus schaffen lassen. Ich eilte dorthin, und als ich ankam, hoben die Männer eben den Sarg vom Fahrzeug, um ihn nach oben zu tragen. Ich unterbrach den Vorgang, denn ich wollte nicht, dass meine Mutter das Gesicht des Toten sähe, weil es von der Wirkung des Opiums auf einerSeite eingefallen und entstellt war. Als ich hinaufging, standen dort zwei Stühle – die man hingestellt hatte, um den Sarg aufzunehmen –, genau so, wie ich sie in meinem Traum gesehen hatte, und wenn ich zwei oder drei Minuten später eingetroffen wäre, hätte der Sarg auf ihnen geruht, genau wie in meinem Traum einige Wochen zuvor.
Nun denn, Twichell – aber vergessen wir Twichell. Es gibt die telefonische Nachricht von seiner Tochter, Mrs. Wood, er sei in der Stadt und wolle zum
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