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Meine geheime Autobiographie - Textedition

Meine geheime Autobiographie - Textedition

Titel: Meine geheime Autobiographie - Textedition Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Twain
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Forderung endete, dass ich in New Orleans an Land gehe. In New Orleans hatte ich immer Arbeit. Es war mein Privileg, von sieben Uhr abends bis sieben Uhr morgens die Frachtladungen zu bewachen und drei Dollar dafür zu erhalten. Die Arbeit fiel drei Nächte alle fünfunddreißig Tage an. Gegen neun Uhr abends, wenn seine eigenen Aufgaben erledigt waren, gesellte sich Henry zu mir, und oft machten wir meinen Rundgang gemeinsam und plauderten bis Mitternacht. Diesmal mussten wir uns trennen, und so gab ich Henry in der Nacht vor der Abfahrt des Schiffs einen Rat. Ich sagte: »Falls dem Schiff ein Unglück zustößt, verlier nicht den Kopf – überlass diese Unklugheit den Passagieren – die sind kompetent – die werden sich schon darum kümmern. Du aber läufst aufs Sturmdeck und nach achtern zu einem der Rettungsboote, die am Ruderhaus angebunden sind, und folgst den Befehlen des Maats – so kannst du dich nützlich machen. Wenn das Boot zu Wasser gelassen wird, hilfst du, so gut du kannst, Frauen und Kindern hinein und versuchst auf keinen Fall, selbst einzusteigen. Es ist Sommerwetter, der Fluss in der Regel nur eine Meile breit, und so weit kannst du mühelos schwimmen.« Zwei oder drei Tage später explodierten bei Ship Island unterhalb von Memphis frühmorgens die Schiffskessel – und was danach geschah, habe ich bereits in
Alte Zeiten auf dem Mississippi
erzählt. Wie dort geschrieben steht, folgte ich der
Pennsylvania
einen Tag später auf einem anderen Schiff, und in jedem Hafen, in dem wir anlegten, hörten wir die Nachricht von dem Unglück, und als wir Memphis erreichten, wussten wir alles darüber.
    Ich fand Henry zusammen mit dreißig bis vierzig anderen verbrühten oder anderweitig verletzten Menschen auf einer Matratze auf dem Fußboden eines großen Gebäudes und wurde von einer indiskreten Person sogleich informiert, dass er Dampf eingeatmet habe, dass sein Körper schrecklich verbrüht sei und er nur noch kurze Zeit zu leben habe; außerdem sagteman mir, dass die Ärzte und die Krankenschwestern ihre volle Aufmerksamkeit den Leuten widmeten, die eine Überlebenschance hätten. An Ärzten und Schwestern fehlte es; und Henry und andere, die als tödlich verletzt eingestuft waren, erhielten nur die Pflege, die man hin und wieder bei den dringenderen Fällen erübrigen konnte. Aber Dr. Peyton, ein ausgezeichneter und großherziger alter Arzt, der in der Gemeinde großes Ansehen genoss, sprach mir sein Mitgefühl aus und nahm sich des Falls tatkräftig an, und nach etwa einer Woche hatte er Henry wieder zu Bewusstsein gebracht. Dr. Peyton ließ sich nie auf Voraussagen ein, wenn sie nicht sicher waren, doch eines Nachts um elf Uhr teilte er mir mit, dass Henry außer Gefahr sei und wieder genesen werde. Dann sagte er: »Um Mitternacht werden die armen Kerle, die hier herumliegen, anfangen zu jammern und zu klagen, zu murren und zu schreien, und es wäre für Henry schädlich, wenn der Tumult ihn beunruhigte; dann bitten Sie die diensthabenden Ärzte, ihm acht Milligramm Morphium zu verabreichen, aber nur wenn Henry Anzeichen erkennen lässt, dass er beunruhigt ist.«
    Ach, das Übrige ist nicht so wichtig. Die diensthabenden Ärzte waren junge Burschen, die eben erst die medizinische Hochschule verlassen hatten, und sie machten einen Fehler – sie konnten die acht Milligramm Morphium nicht abwiegen, sondern mussten sie schätzen; auf der Spitze einer Messerklinge verabreichten sie ihm ein riesiges Quantum, und die tödlichen Folgen machten sich bald bemerkbar. Ich glaube, er starb gegen Morgengrauen, ich kann mich nicht mehr erinnern. Er wurde in die Totenkammer gebracht, und ich ging für eine Weile zum Haus eines Bürgers, um meine angesammelte Müdigkeit abzuschütteln – unterdessen geschah Folgendes. Die Särge, die für die Toten bereitgestellt wurden, waren aus unbehandelter Weymouthskiefer, doch in diesem Fall hatten die Damen von Memphis sechzig Dollar gespendet und einen Metallsarg gekauft, und als ich zurückkam und die Totenkammer betrat, lag Henry in diesem offenen Sarg und war in einen meiner Anzüge gekleidet. Er hatte ihn ohne mein Wissen während unseres letzten Aufenthalts in St. Louis geborgt; und ich begriff sofort, dass der Traum, den ich mehrere Wochen zuvor gehabt hatte, hier in allen Details genau nachgebildet war – ich glaube, nur ein Detail fehlte mir; aber das wurde augenblicklichnachgeholt, denn gleich darauf trat eine ältere Dame mit einem großen Blumenstrauß ein,

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