Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Meine kaukasische Schwiegermutter

Meine kaukasische Schwiegermutter

Titel: Meine kaukasische Schwiegermutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wladimir Kaminer
Vom Netzwerk:
Abendessen muss man drei Mal auf den Verstorbenen trinken, damit ihn die Erde gut aufnimmt und sein Geist reibungslos in den Himmel kommt, auf dass seine Seele die Seinen findet. Wenn man diese Rituale nicht befolgt, kann die Seele auch nach den vierzig Tagen noch im Haus herumirren und die Familienangehörigen verwirren oder sogar versuchen, sie ins Jenseits mitzunehmen.
    Diese Rituale haben wenig mit dem Christentum zu tun. Die Menschen im Kaukasus sind wie alle Russen doppelt gläubig. Nach dem Fall des Sozialismus wurden hier überall Kirchen und/oder Moscheen gebaut beziehungsweise wieder hergerichtet. Selbst in kleinen Städten und Dörfern sind diese Kultstätten schon von weitem zu sehen. Es sind in der Regel neben dem Rathaus und der Bank die prachtvollsten Bauten der Gegend, mit goldenen Kreuzen oder Halbmonden auf dem Dach und einem großen menschenleeren Hof davor. Die meisten Leute gehen jedoch nur zu den großen religiösen Feiertagen in die Kirche oder Moschee, im Alltag bleiben sie heidnisch. Vielleicht liegt es daran, dass Russland spät, erst vor tausend Jahren, christianisiert wurde und selbst dann nicht ganz. Der heidnische Aberglaube aus den alten Zeiten, von Großmüttern immer wieder neu interpretiert, hat sich mit den Postulaten der orthodoxen Kirche vermischt, die durch ihre Spaltung und später, als sie von den Bolschewiken in den Untergrund gedrängt wurde, ohnehin schon genügend mystische Züge bekommen hatte.
    Bereits unter den Zaren hatte die orthodoxe Kirche es nicht leicht, den heidnischen, kirchenfeindlichen Aberglauben zu bekämpfen. Damals glaubten die Leute zum Beispiel, dass es schlecht sei, wenn man auf dem Weg zum Angeln einem Popen begegnete. Man fing dann keine Fische. Als schlechtes Omen galt es auch, wenn man einen Geistlichen neben dem Friedhof traf. In diesem Fall musste man ihm hinterherspucken oder einen kleinen Stein nach ihm werfen. Einen Geistlichen im Wald zu treffen, galt als schädlich für das Jagdglück. Außerdem würde man sich hernach bestimmt im Wald verlaufen. In diesem Fall musste der Jäger ebenfalls dem Popen hinterherspucken und sein Hemd linksherum anziehen. Bei einer kirchlichen Hochzeit versuchte die Braut, möglichst unauffällig dem Popen, der die Zeremonie leitete, auf den Fuß zu treten, damit ihr zukünftiger Ehemann nicht zum Trinker wurde. Mit einem Wort, es herrschten raue Sitten, die das Leben der Geistlichen auf dem Lande erschwerten.
    Es gab deswegen viele Beschwerden von Kirchenmitarbeitern beim obersten Organ der russischen Orthodoxie, der Heiligen Synode, die ja bemüht war, das Heidentum auszurotten. Jedes Jahr veröffentlichte die Heilige Synode Aufklärungsbücher, Aufrufe an das Volk, die in den Kirchengemeinden verteilt werden mussten: »Aufruf an die Angler«, »Aufruf an die Pilzsammler«, »An die Jäger« usw. Die Kirche wollte dem Volk erklären, dass jede Begegnung mit einem Geistlichen in Wahrheit nur Glück verhieß, pures Glück und sonst nichts. Es hat nichts gebracht. Die Menschen blieben abergläubisch. Weder tausend Jahre Christentum noch siebzig Jahre Sozialismus konnten daran etwas ändern.
    Jeder im Kaukasus, egal welcher Konfession, hat tausend Aberglaubens-Artikel im Kopf. Er weiß, dass es in einem richtigen Haus immer einen Hausgeist gibt, mit dem man besser in Frieden lebt, und dass jedes Lebewesen unter einem ganz bestimmten persönlichen Schicksal zu leben und zu leiden hat. Man weiß, dass der Tod Zöpfe trägt, dass man Wasser, egal ob im Brunnen oder im Glas, immer abdecken muss, damit der Hausgeist nicht hineinspuckt. Dass der Frösche fressende Storch in seinem früheren Leben ein reicher Bauer war, der seine Arbeiter schlecht ernährte, und dass die Falter, die abends um die Glühbirne flattern, verlorene Seelen sind, die nicht richtig verabschiedet wurden und deswegen das richtige Licht nicht vom falschen unterscheiden können. Außerdem wissen manche, dass der Kuckuck früher ein armes Mädchen war, das vom Wiedehopf verführt wurde. Der hübsche Vogel mit den runden Augen und der Ponyfrisur schwängerte sie, versprach, sie zu heiraten, und machte sich dann aus dem Staub. Seitdem findet der Kuckuck keine Ruhe und hat keinen Platz mehr im Wald. Alles fällt ihm aus dem Schnabel, er baut keine Nester, lässt seine Küken von fremden Vögeln aufziehen, fliegt nur herum und ruft ununterbrochen »Kommst du? Kommst du?«. Er ruft und ruft ganze Tage und Nächte hindurch. Manchmal verliert der Wiedehopf die

Weitere Kostenlose Bücher