Meine kaukasische Schwiegermutter
Nerven und schreit aus der Dunkelheit zurück: »Gleich!« Er kommt aber nie.
14 -
Schusswaffen im Nordkaukasus
Oft habe ich denselben Albtraum: Ich werde erneut in die sowjetische Armee einberufen. Im Traum kommt ein Unteroffizier zu mir nach Hause nach Berlin und drückt mir eine schriftliche Aufforderung in die Hand. In dieser steht, ich habe mich dann und dann dort und dort einzufinden und mich zum Dienst zu melden.
»Aber ich war doch schon bei der Armee«, versuche ich den Unteroffizier in meinem Traum zu besänftigen. »Ich habe zwei Jahre bei der Raketenabwehr auf einer Funkstation abgesessen, 1986 – 88, Rufzeichen ›Grüne Tasse‹, Sie können es nachprüfen! Außerdem zieht die Armee doch nur Leute bis zum 27. Lebensjahr ein, ich bin aber schon über vierzig! Ich fühle mich nicht gut, ich habe Rückenschmerzen, meine Sehkraft schwankt, ich kann nicht mehr zielen. Abgesehen davon gibt es meine Heimat, die Sowjetunion, seit beinahe zwanzig Jahren gar nicht mehr, und Russland habe ich verlassen. Ich bin deutscher Staatsbürger!«, erkläre ich im Traum dem Unteroffizier.
Er tut so, als würde er mich nicht hören. Die weltpolitische Lage sei eskaliert, murmelt er. Amerika sei immer frecher geworden, die Nato-Erweiterung Richtung Osten kaum noch zu stoppen, die separatistischen Bewegungen in den Regionen würden von ausländischen Geheimdiensten unterstützt.
»In dieser Situation brauchen wir jeden Mann«, sagt der Unteroffizier.
An dieser Stelle wache ich schweißgebadet auf. Als ich in einer kleinen Runde zu Hause von dem Traum erzählte, meinten zwei Freunde von mir, auch sie hätten schon im Schlaf erlebt, dass sie noch einmal zur Armee mussten. Ein Massenalbtraum also.
Der Armeedienst in der Sowjetunion war ein tiefgreifendes Erlebnis, das bei vielen schlimme Spuren hinterlassen hat. Alle Männer mussten in der Sowjetunion eine Militärausbildung absolvieren. Selbst wenn sie nicht in die Armee eintreten mussten, hatten sie in der Schule ab der neunten Klasse Kalaschnikows auseinander- und wieder zusammengebaut, waren auf dem Schulhof hin- und hermarschiert und hatten mit einer Stoppuhr eine Gasmaske auf- und wieder abgesetzt. Der sozialistische Staat hat nie versucht, sich mit den feigen Kapitalisten in einem Wurstwettbewerb anzulegen, ihm ging es auch nicht darum, wessen politisches System imstande war, mehr Klamotten, Autos oder Lebensmittel zu produzieren. Das Wettrennen der Ideologien fand ausschließlich im Bereich der Rüstung statt.
Die gesamte sowjetische Industrie war in Wirklichkeit eine Rüstungsindustrie, auch wenn sie Nuckel oder Zahnbürsten produzierte. Solche Fabriken und Betriebe hatten parallel immer militärische Aufgaben zu erfüllen, oder sie konnten im Fall der Fälle schnell auf Waffenproduktion umschalten. Deswegen ähnelten die sowjetischen Anzüge den Uniformen, Waschschüsseln hatten die Form von Satellitentellern, die Ersatzteile von Traktoren passten in Panzer, und alle Nudeln in der Sowjetunion waren vom Kaliber 7,42, damit man zur Not mit den gleichen Produktionslinien Hülsen für die damals gängige 7mm-Munition herstellen konnte. Dieser staatliche Militarismus trug dazu bei, dass die Bürger der Sowjetunion, genau wie die Bürger Amerikas, Waffen mochten beziehungsweise verherrlichten. Später, als das kapitalistische Amerika mit seinen Chicken Wings unsere 7mm-Makkaroni fertigmachte, fand der Rüstungswettkampf ein Ende. Die Sowjetunion ging ein, aber die Waffenverherrlichung in der Bevölkerung blieb erhalten.
Besonders viele Waffennarren trifft man in den ländlichen Gebieten Russlands, obwohl die russischen Waffengesetze alles andere als nachlässig sind. Meine Schwiegermutter bekam beispielsweise dafür, dass sie die alte Jagdflinte ihres verstorbenen Mannes nicht rechtzeitig registrieren ließ, zwei Jahre auf Bewährung und wurde auch noch wie zum Hohn mit einem Ukas des Präsidenten amnestiert. Alle ihre Nachbarn in der nordkaukasischen Steppenstraße besitzen Schusswaffen, aber die meisten wissen nicht einmal, wozu sie die Waffen brauchen. Zum Schutz des Familienherdes – aber vor wem? Früher brachte jeder Bewohner der Steppenstraße, wenn er geschäftlich oder privat in die Stadt fahren musste, sein Gewehr und sein Geld zum Nachbarn. Wenn der eine abwesend war, musste der andere auf dessen Familie und dessen Haus aufpassen, erzählte mir Onkel Joe, der bis vor kurzem als einziger Waffenloser in der Straße auffiel. Alle seine
Weitere Kostenlose Bücher