Meine kaukasische Schwiegermutter
schon mehrmals vorgekommen, dass Schwiegermütter, die länger als neunzig Tage im Land zu Besuch blieben, terroristische Aktivitäten gegen die Einheimischen entwickelten oder gegen ihre verwandtschaftlichen Gastgeber Amok liefen.
Als gesetzestreue Bürgerin hat meine Schwiegermutter in all den Jahren unserer Verwandtschaft nicht ein einziges Mal die 90-Tage-Frist überschritten. Letztes Jahr hatte sie sich allerdings verzählt. Sie feierte mit uns ausgiebig Silvester, und zwar die ganze Nacht vom 31. Dezember bis zum 3. Januar, half abschließend noch sauberzumachen, die Möbel wieder aufzustellen und die Gardinen wieder aufzuhängen. Dann flog sie frohen Mutes am 4. Januar in den Kaukasus zurück mit Zwischenlandung in Moskau, um pünktlich zu Ostern wieder nach Berlin zu kommen. Anfang April hatten die Kinder Schulferien. Wir könnten alle zusammen nach Mallorca fliegen, so planten wir. Meine Schwiegermutter landete am 4. April in Tegel. Aus ihrer Sicht hatte sie die notwendige 90-Tage-Pause völlig korrekt eingehalten. Die Grenzkontrolle war aber anderer Meinung. Die Schwiegermutter wurde beiseitegenommen und bekam es mit der Angst zu tun. Immerhin hatte sie in ihrem Gepäck unerlaubte verdächtige Gegenstände versteckt, die sie nach Deutschland transportieren wollte: Kaviar, geräucherten Fisch und das Holzmodell eines chinesischen Panzers zum Selberbasteln.
Die Polizisten behaupteten, meine Schwiegermutter müsse sofort zurückfliegen und in zwei Tagen wiederkommen, weil die 90-Tage-Pause nicht eingehalten worden sei. Zwei Polizisten hielten meine Schwiegermutter, die aus Mangel an Sprachkenntnissen ziemlich in Panik geraten war, fest, meine Frau und ich widersprachen unterdessen der Grenzkontrolle. Die Polizisten holten einen Taschenrechner und bewiesen uns damit, dass der Februar wegen seiner extremen Kürze die 90-Tage-Frist der Schwiegermutter versaut hatte. Wir holten ebenfalls einen Taschenrechner heraus und demonstrierten damit, dass der März durch seine extreme Dauer den Februarverlust wettgemacht hatte. So standen wir an dieser deutschen Tegel-Grenze mit Taschenrechnern bewaffnet und rechneten einander die Schwiegermutterpause vor, wobei die Schwiegermutter selbst an der Diskussion nicht teilnehmen konnte und sehr darunter litt. Je länger wir rechneten, umso unübersichtlicher schienen uns unsere Rechnungen. Die Polizisten griffen zum Telefon und holten einen Vorgesetzten, der ein Rechnungsweiser war. Er rechnete noch einmal alles durch und gab uns anschließend Recht. Meine Schwiegermutter durfte die Grenze passieren, nicht einmal ihr Gepäck wurde kontrolliert.
Mit der Schwiegermutter passierten die deutsche Grenze eine kleine Büchse roter Kaviar, eine große Büchse mit Honig aus den Vorräten des kaukasischen Imkers und Nachbarn Juri Wladimirowitsch, ein eigenhändig von Onkel Georgij Ivanowitsch gefangener und geräucherter Fisch und ein chinesischer Panzer zum Selberbasteln als Geschenk für das Enkelkind Sebastian, der jedoch auf Computerspiele steht und zu faul zum Zusammenkleben chinesischer Panzer ist. Zu dem Panzer gehörte ein ganzer Stapel Skizzen und Ausrüstungsbeschreibungen, wie man sie bei einem Spielzeug nicht erwartet. Wahrscheinlich haben die Chinesen die ins Russische übersetzten Baupläne des echten Panzers einfach für das Spielzeugmodell kopiert. Man muss schon ein paar Jahre Panzerfahrer-Erfahrung haben, um die Einzelheiten zu verstehen, obwohl das Ganze »ab drei« freigegeben ist.
Um den Stress der Anreise zu mildern, gingen wir am gleichen Abend alle zusammen zum Italiener, in die große Pizzeria bei uns im Prenzlauer Berg, die sich tatsächlich auf einem kleinen Berg befindet. Wir nennen sie in unserem Familien-Slang die Bergpizzeria. Die Schwiegermutter kannte und mochte sie von ihren früheren Berlinaufenthalten. Diese Pizzeria gilt im Bezirk als sozial und alternativ, die Preise sind erträglich, die Pizzen groß, alle Kellner sind gepierct und tragen buntgefärbte Punkfrisuren. Innen sind alle Wände mit Graffitis besprüht, und über der Küche hängt ein großes Plakat mit einem Kleinkind darauf. Darunter steht: »Revolution ja, aber nicht wie in Russland.«
Jedes Mal ärgerte ich mich über dieses Plakat. Was wissen diese Pizzabäcker schon von unserer Revolution, außer dass sie schiefging? Sie wurde von Romantikern durchgeführt, von Pragmatikern übernommen und von Zynikern in den Sand gesetzt. Seitdem muss die Russische Revolution immer wieder als
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