Meine kaukasische Schwiegermutter
unter jedem Supermarkt einen Joghurt-Drachen geben, dem alle übrig gebliebenen Produkte mit überschrittenem Verfallsdatum in den Rachen geschoben werden. Oft, wenn ich einkaufen gehe, stelle ich mir diesen Drachen vor, der Joghurts frisst. Es scheint mir, als könnte ich hören, wie er unter dem Supermarkt schwer atmend auf die neue Tagesration wartet. Deswegen gehe ich ungern in Berlin in großen Läden einkaufen. Meine Schwiegermutter dagegen ist von den Berliner Kaufhallen begeistert. Je größer, desto besser. Sie geht jeden Tag einkaufen, wenn sie uns in Berlin besucht, ein Grund findet sich immer. Die Familie ist groß, irgendetwas fehlt dauernd.
In Berlin wohnen wir zwischen zwei großen Einkaufscentern, einem im Westen und einem im Osten der Stadt. Beide sind gleich weit von unserem Haus entfernt, deswegen geht meine Schwiegermutter abwechselnd an einem Tag gen Osten und am nächsten Tag gen Westen einkaufen, um beiden Läden gerecht zu werden. Der tägliche Einkaufsbummel macht ihr großen Spaß. Wie eine Disko, in der die Menschen kommunizieren, ohne miteinander zu reden, bietet die Kaufhalle eine Form der Kommunikation, die ohne Sprachkenntnisse auskommt.
Seit vielen Jahren geht meine Schwiegermutter nun schon allein in Berlin einkaufen, und nie hat es irgendwelche Komplikationen gegeben. Bis sie einmal kurz vor Weihnachten deutlich mehr Zeit als geplant im sogenannten Gesundbrunnen-Center verbrachte. Sie war offenbar im Westen verschollen, wir machten uns schon Sorgen und wollten sie suchen gehen. Da erschien sie endlich verwirrt und nachdenklich wieder zu Hause. Sie sagte uns, man habe sie in der Kaufhalle aufgehalten, um sie zu fotografieren. Sie brauchte beinahe eine Stunde, um sich zu beruhigen. Dann erzählte sie ausführlich, was passiert war.
Meine Schwiegermutter hatte in der Real-Filiale des Gesundbrunnen-Centers einen typischen alltäglichen Einkauf getätigt: zehn Dosen Katzenfutter, eine Gurke, eine Flasche Ketchup und ein Blutdruckmessgerät. Das alte Gerät war vor kurzem kaputtgegangen. Die Kassiererin bearbeitete die Einkäufe blitzschnell wie eine Maschine mit ihrem Lasergerät. Als sie das Blutdruckmessgerät in die Hand nahm, das als Letztes auf dem Band lag, wurde sie plötzlich nachdenklich und schaute meine Schwiegermutter fragend an. Die gab der Kassiererin einen Fünfzig-Euro-Schein. Die Kassiererin nahm das Geld und fing an zu telefonieren. Der Sicherheitsmann des Kaufhauses, der in der Nähe stand, zeigte deutliches Interesse für die Situation, kam aber nicht näher. Irgendetwas lief schief, nur was? Meine Schwiegermutter überlegte panisch, was sie möglicherweise falsch gemacht hatte, oder was in ihrem Benehmen für die Mitarbeiter der Kaufhalle komisch sein könnte. Sie schaute sich noch einmal ihre Einkäufe an: das Katzenfutter, die Gurke, das Ketchup und das verfluchte Blutdruckmessgerät. Für jedes einzelne Produkt hatte sie eine Erklärung. Alle zusammen stellten sie vielleicht eine seltsame Mischung dar, jedoch nicht so seltsam, dass man gleich verhaftet würde.
Nach dem kurzen Telefonat der Kassiererin kamen zwei ihrer Kolleginnen, zwei kräftige Damen, die meine Schwiegermutter unterhakten und sie laut redend in eine unbekannte Richtung zogen. Das einzige Wort, das sie verstand, war »Foto«. Das ist das Ende, dachte meine Schwiegermutter, ich bin verhaftet worden und weiß nicht einmal, wofür. Jetzt machen sie Fotos von mir wie in diesen amerikanischen Filmen, wenn Kriminelle geschnappt werden: einmal im Profil und einmal frontal. Danach werde ich bestenfalls ausgewiesen. Meine Schwiegermutter schaute sich nach möglichen Fluchtwegen um. Man konnte nirgendwohin weglaufen, vor dem einzigen Ausgang stand der Sicherheitsmann, der das Abführen meiner Schwiegermutter nach wie vor mit großem Interesse verfolgte.
Die Mitarbeiterinnen des Kaufhauses hielten meine Schwiegermutter fest, man sah ihnen an, dass sie an der Situation großen Spaß hatten. Sie lächelten, zwinkerten meiner Schwiegermutter zu und redeten ununterbrochen. Wie vor einem Baby tanzte eine der Damen vor der Schwiegermutter. Sie führte einen seltsamen wilden Bauchtanz vor, indem sie ihr Becken kreisen ließ, mit den Händen fuchtelte und dabei laut »gratis, gratis, gratis« ausrief. Das Wort »gratis« kannte die Schwiegermutter ebenso wie das Wort »Foto«. Nicht umsonst hatte sie in der Schule fünf Jahre lang Deutschunterricht gehabt. »Gratis« klang beruhigend, obwohl unklar war, was
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