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Meine kaukasische Schwiegermutter

Meine kaukasische Schwiegermutter

Titel: Meine kaukasische Schwiegermutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wladimir Kaminer
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Symbol des gescheiterten sozialistischen Experiments herhalten. Der russische Sozialismus ist darüber zu einer Vogelscheuche geworden. Meine Kinder, die eigentlich deutsche Kinder sind, weil in Deutschland geboren, kennen nur die Schrecken des Nationalsozialismus, weil man darüber in Deutschland schon in der Grundschule unterrichtet wird. Mein Sohn musste bereits in der dritten Klasse Vorträge zum Thema Bücherverbrennung halten. Er weiß über viele grausame Verbrechen des Nationalsozialismus Bescheid. Ein anderer Sozialismus wird in der Schule nicht gelehrt. Davon wissen die Kinder nichts, und wenn sie das Wort Sozialismus hören, denken sie zuerst an Adolf Hitler.
    Beim Italiener habe ich zuerst das Plakat über die russische Revolution der Schwiegermutter übersetzt, dann die Kinder über Kapitalismus und Sozialismus aufgeklärt. Diese Erklärung war ich ihnen schon lange schuldig.
    »Beim Kapitalismus, wie der Name schon verrät, steht das Kapital im Mittelpunkt«, erklärte ich. »Das Kapital ist nicht nur eine Menge Kohle, die es auszugeben gilt. Es ist wie Feuer, es muss sich vermehren, um nicht auszugehen. Die Haupteigenschaft, die der Kapitalismus in den Menschen erzeugt, ist die Gier. Die Bürger dürfen nicht mit gutem Gewissen auf dem Sofa liegen, sie müssen stets mehr wollen und sich dafür den Arsch aufreißen. Der Sozialismus sollte als Gegenentwurf den Menschen in den Mittelpunkt stellen und in ihm die umgekehrten Eigenschaften wecken: Faulheit, Gelassenheit, Entspannung. Es waren nicht die schlechtesten Eigenschaften, aber Bürokraten, Diebe, Fanatiker und Generäle haben die ganze Sache mit dem Sozialismus versaut. Sie haben den sowjetischen, zwar in die falsche Richtung, aber immerhin entwickelten Sozialismus gegen einen primitiven amerikanischen Kapitalismus getauscht. Seitdem haben sich die Russen freiwillig zu sozialistischen Schreckgespenstern gemacht. Und wenn es darum geht, die Menschen irgendwo auf der Welt an die Alternativlosigkeit der kapitalistischen Gesellschaftsordnung zu erinnern, wird die gescheiterte russische Revolution als letztes überzeugendes Argument herausgeholt. Dabei war das anarchistische Russland, in dem schon immer die Falschen an der Macht waren, ein denkbar ungünstiges Land für ein solches wichtiges gesellschaftliches Experiment. Die Deutschen, glaube ich, hätten den Sozialismus viel besser hingekriegt, aber sie wollten nicht experimentieren.«
    »Alles Quatsch«, meinte meine Schwiegermutter. »Der Sozialismus bedeutete in Russland nichts als schlimme Ausbeutung, und der Kapitalismus hat nichts an den schlimmen Verhältnissen geändert. An vielen Orten gehen sie Hand in Hand.«
    Der Nordkaukasus, das ganze Gebiet Stawropol, wo meine Schwiegermutter wohnt, wird noch heute von den Kommunisten regiert. Die Gegend gehört zu dem sogenannten Roten Gürtel Russlands. Dort werden seit ewigen Zeiten die Kommunisten gewählt. Und was passiert? Die Kommunisten haben sich mit der kapitalistischen Gesellschaftsordnung prima arrangiert. Sie lassen sich gerne korrumpieren und von den Reizen des Kapitals verführen. Das einheimische und das ausländische Kapital drehen seit den Neunzigerjahren im Nordkaukasus ihre Kreise auf der Suche nach »innovativen Investitionsprojekten«, und die Gebietsadministration freut sich darüber, weil sie aus Tradition zwanzig Prozent dieser Investitionen einbehält.
    In der letzten Zeit wütete das Kapital im Kaukasus wie ein Orkan. Überall, wo er vorbeizog, hinterließ er hässliche Spuren: überdimensionale Hotels, die zwischen den kaukasischen Bergen wie eine Parodie auf den Größenwahn der Natur aussehen, oder riesige Autohäuser mitten in der Steppe. Überall wurden ehrgeizige Bauvorhaben angefangen. Mal fehlte plötzlich ein Stück Wald, mal war ein ganzer Berg weg, zu Bausteinen abgebaut und auf LKWs in unbekannte Richtung abtransportiert. Der Abbau des armen Berges ging schwindelerregend schnell. Eine Woche lang verdreckte Staub die Fensterscheiben der Häuser, und als die Einwohner ihre Fenster geputzt und einen Blick nach draußen geworfen hatten, war der Berg auch schon weg. Fortan mussten sogar die Bergadler auf dem Dach des örtlichen Lebensmittelladens notlanden.
    Solche innovativen Projekte der Großinvestoren werden von Moskau gefordert und unterstützt. Die Regionen müssen zeigen, dass sie nicht schlafen, sondern sich großkapitalistisch anstrengen. Je bombastischer und teurer ein Projekt ist, desto besser für das Ansehen

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