Meine Kinderjahre
Rathausgefängnis vorüberging und die Straßenjungen mir zuriefen: »Kuck, da sitzt Mohr.« Aus dieser meiner vergleichsweisen Ruhe wurde ich erst aufgestört, als es an einem Sonnabend, ich glaube, es war im Frühjahr 28, hieß: »Heute sind sie gekommen.« Die, die gekommen sein sollten, waren der Scharfrichter und seine Knechte. Es hatte auch seine Richtigkeit damit, wovon ich mich bald selbst überzeugen sollte. Jeden Nachmittag machten wir, mein Bruder und ich, einen Spaziergang an dem schon in den Dünen gelegenen Kirchhof vorüber auf den Strand zu. So auch an jenem Sonnabend. Der Kirchhof lag bereits hinter uns, und das Meer, wenn der Weg etwas anstieg, blitzte schon hier und da vor uns auf, als wir plötzlich einer Anzahl von Leuten ansichtig wurden, die links ab vom Wege in einer von Strandhafer überwachsenen Dünenschlucht ein sonderbares Gerüst aufschlugen, nicht viel größer als ein großer Tisch. Sie klopften gerade große Nägel mit Eisenringen daran in die Bretter des Podiums, darauf außerdem noch Holzklötze standen, ein halbes Dutzend oder ein paar mehr. Die Leute aber, die dabei beschäftigt waren, waren nicht Zimmerleute, sondern die, von denen es hieß, daß sie gekommen seien. Sie ließen sich nicht stören, und wir unsererseits, nachdem wir das unheimliche Bild uns eingeprägt, gingen rasch weiter auf den Strand zu, wo der Blick aufs Meer uns wieder frei machte.
Gegen Dunkelstunde waren wir, auf einem Umwege, wieder in unserer Wohnung zurück; aber da wurde nicht viel von dem, was bevorstand, gesprochen, und erst am Abend erfuhren wir, daß mein Papa mit dabeisein werde und das Kommando habe. Richtig, es war so. Als großer stattlicher Mann und 1813 er war er ausersehen, an der Spitze der bewaffneten Bürgerschaft zu marschieren und draußen vor Beginn der Exekution das Schafott mit seinen Leuten kreisförmig zu umstellen.
Als der Montag da war, ich hatte die ganze Nacht nicht geschlafen, sah ich denn auch meinen Vater in pontificalibus. Er hatte einen Hut mit einer Feder auf und trug einen kolossalen Schleppsäbel, dessen blanke Messingscheide mir noch in diesem Augenblicke vor Augen steht. Die Freiwilligenbüchse, die keine Büchse war, hatte ihren verstaubten Platz zwischen den Flurschränken nicht verlassen, denn als Offizier war es sein Recht und seine Pflicht, nur den Säbel zu führen. Wir Kinder schlichen uns bis in die Nähe des Rathausplatzes, von wo aus der Zug sich alsbald in Bewegung setzte, erst eine Abteilung Schützengilde, dann die Schleife mit den beiden Verurteilten, rechts und links von ein paar der besten Schützen begleitet; abschließend dann die gesamte bewaffnete Bürgerschaft. Die Stadt war wie ausgestorben, alles draußen oder im Gefolge. Wie die Letzten außer Sicht waren, zogen wir uns in unser Haus zurück. Einige befreundete Damen begleiteten meine Mutter, die merkwürdig ruhig war; sie fand alles, was vorging, nur in der Ordnung, Aug um Auge, Zahn um Zahn, und ließ den Damen, die mit bei uns eingetreten waren, ein Glas Portwein reichen. Dann sprach sie von ganz andern Dingen; sie wollte falsche Sentimentalität nicht aufkommen lassen und hatte recht wie immer.
Inzwischen gingen die Dinge draußen ihren Gang. Mit der Frau ging es rasch. Dann kam Mohr an die Reihe. Man legte ihn auf die Klötze – denn die vorzunehmende Prozedur war die des Räderns – und schob ihm dann einen zur Schleife geschlungenen Strick rasch um den Hals, der nun durch die Ringe hindurch von zwei Seiten her fest angezogen werden sollte. Das war, damit er fester liege; aber eigentlich war es, um der Qual ein rascheres Ende zu machen; ein sehr zu billigendes Verfahren. Im selben Momente jedoch, wo die Knechte, die es gut meinten, den Strick scharf anzogen, riß dieser von der dabei angewandten Gewalt, und Mohr, der bis zum letzten Augenblicke den unsinnigen Glauben an seine Begnadigung »noch von Jena her« festgehalten hatte, richtete sich auf, fixierte den neben ihm stehenden Scharfrichter und sagte mit einem grausigen Freudenausdruck im Auge: »Wat wird nu aus Muhrn?« Er hatte nicht lange zu warten. Eine neue sich um seinen Hals legende Strickschleife war die Antwort auf seine Frage.
Gegen elf waren alle von der Exekution zurück, mein Vater in sichtlicher Erregung, aber diese doch auch wieder gedämpft durch das Gefühl der verantwortlichen Kommandorolle, die sein Teil bei der Sache gewesen war. Er erzählte den Hergang ziemlich ruhig, nur mit besonderer Betonung einzelner
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