Meine letzte Stunde
ist eine Notwendigkeit und ein Zeichen für psychische Gesundheit. Im Schlaf geht die Welt des Sprechens unter und die früheren Sprachen, vor allem die Bilder, übernehmen wieder die Führung und erlauben uns das ungehemmte Ausleben der Triebe im Traum.
Eines der schönsten Geschenke, das uns die Natur gemacht hat, ist zweifellos das Erleben eines Orgasmus. Und es ist wohl kein Zufall, dass ihn die Franzosen „la petite mort“, den „kleinen Tod“, nennen. Der „kleine Tod“ ermöglicht uns den Rückfall in die nicht sprachlichen Welten unseres tieferen Bewusstseins, den Körper, vor allem die Haut als der größten erogenen Zone sowie das Riechen, das Hören, das Stöhnen. Im Augenblick des „kleinen Todes“ ist unser alltägliches Bewusstsein kurzfristig weg, im Prinzip das gleiche Phänomen wie beim Schlaf, nur dass bei diesem der Bewusstseinsausfall eben weit länger andauert. Der „kleine Tod“ gibt uns eine Vorahnung auf den großen Tod. In diesem Augenblick empfinden wir Selbstaufgabe und Ekstase. Wir sind ganz präsent und gleichzeitig weit weg. Wir spüren einen Augenblick lang die Verbundenheit mit etwas, das über uns selbst und unseren Partner hinausgeht. Wir schließen die Augen und spüren einfach. Wir erahnen einen Zipfel eines gemeinsamen Ganzen und wollen diesen möglichst lange festhalten, bis er uns langsam entgleitet. Einen echten Orgasmus können wir uns nicht nehmen, er nimmt uns – das hat der kleine Tod mit dem echten Tod gemein. Die Angst vor dem Kontrollverlust hindert Menschen am Schlafen und am „kleinen Tod“. Auch der wirkliche Tod verlangt diesen Prozess, sich hineinfallen zu lassen. Der „echte Tod“ ist ein Verwandter des Schlafes und des „kleinen Todes“, mehr als uns das vielleicht bewusst ist.
Natürlich gibt es auch viele andere Phänomene, die „zum Sterben schön“ sind, weil sie uns erlauben, in andere Bewusstseinsformen einzutauchen: Meditation, Gebet, die Ekstase des Tanzes und vieles mehr. Durch Drogen können wir ebenfalls unserem Tagesbewusstsein entfliehen. Das Problem ist aber, dass wir uns selbst trotzdem nie dauerhaft entkommen, nur der Tod ist endgültig.
„Viele Menschen sagen, dass wir den Sinn des Lebens suchen. Ich glaube nicht, dass es das ist, was wir wirklich suchen. Ich glaube, wir suchen persönliche Erfahrung der Lebendigkeit, damit wir den Reiz des Gefühls, wirklich am Leben zu sein, voll auskosten können“, meint Joseph Campbell.
Die zwei wichtigsten Tage im Leben jedes Menschen
Nicht den Tod sollte man fürchten,
sondern dass man nie beginnen wird, zu leben.
Marc Aurel
Richard Leider ist seit 30 Jahren erfolgreicher Lebensberater für ältere Menschen und US-Bestsellerautor. [2] Eine der wichtigsten Lektionen für sein Leben lehrte ihn Kampala, ein 90-jähriger Weiser vom Stamm der Hadza in Tansania. Eines Abends, nach einer langen Wanderung durch die Wüste, nahm Kampala Richard Leider beiseite und fragte ihn: „Was sind die zwei wichtigsten Tage in Deinem Leben?“ Leider antwortete spontan: „Geburt und Tod.“ Kampala schüttelte den Kopf: „Richard, Du bist über das Meer geflogen, mit dem Landrover hergefahren, bringst diese schönen Zelte mit, Du hast so viele Bücher geschrieben und dann kannst Du eine der einfachsten Fragen nicht beantworten.“ – „Also, was ist die richtige Antwort?“, wollte Leider wissen. „Geburt ist offensichtlich richtig. Aber der zweite wichtige Tag in Deinem Leben ist, wenn Du herausfindest, warum Du geboren wurdest“, erklärte ihm Kampala.
Nur die Tatsache, dass man geboren wurde und zu vegetieren beginnt, heißt noch lange nicht, dass man zu leben begonnen hat. Manche Menschen werden erst mit 45 Jahren geboren, manche sind lange tot, bevor ihre letzte Stunde schlägt, manche beginnen überhaupt nie zu leben. Für viele Menschen ist das Leben nichts mehr als ein langer Schlaf, aus dem sie nie erwachen. Andere Menschen führen ein Leben in stiller Verzweiflung. In jeder Religion, in jeder spirituellen Tradition, in jeder Philosophie ist das Leben nicht etwas, das man automatisch hat, sondern etwas, wofür man sich bewusst entscheiden muss, etwas, das harte Arbeit an sich selbst bedeutet. Die größte Hilfe bei der Entscheidung, ob man wirklich leben will, ist die Tatsache, dass es einen Tod gibt. Er ist nichts Abstraktes und in weiter Ferne Liegendes, sondern etwas sehr Konkretes, das uns jedes Mal, wenn wir den Gedanken daran im Hier und Jetzt zulassen, hilft, unsere
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