Meine letzte Stunde
Erbärmlichkeit. Sie ist der Akt letzter Gerechtigkeit.
Wenige Menschen werden als große Wohltäter oder Heilige geboren. Die Heldengeschichten von heute handeln meistens von innovativen Unternehmern, mutigen Flugzeugpiloten und charismatischen Präsidenten, von Sportlern, die ihr Schicksal bezwungen haben, oder genialen Künstlern. Nicht jedem ist es bestimmt, ein Held der Weltgeschichte zu werden. Die Ausrede, dass man eben kein Gandhi, keine Mutter Teresa oder kein Nelson Mandela sei, gilt aber nicht. Wir alle werden von moralischen Helden inspiriert. In allen Menschen stecken „kleine Helden“. Gerade wenn man die Lebensgeschichten der drei liest, erkennt man, dass sie schon in jungen Jahren, damals völlig unbekannt, kleine Helden waren, die immer dem mutigen Weg ihrer Überzeugung gefolgt sind, auch wenn das der unbequeme und gefährliche war. Jeder, der diesem Weg folgt, ist ein Held, wie schon viele vor ihm – und am Ende des Tages wird er nicht allein sein. Das steckt tief im kollektiven Unbewusstsein der Menschheit. [1]
Die kleinen Helden
Niemand wird uns je fragen, warum aus uns kein Gandhi, keine Mutter Teresa oder kein Nelson Mandela geworden ist. Die Frage lautet vielmehr: Bist Du der bestmögliche Mensch geworden, der Du mit Deinen Anlagen werden konntest?
Das Leben bietet jedem die Möglichkeit, menschlich Herausragendes zu leisten oder zu versagen. Ich möchte das am Beispiel der Arbeitsplatzbeschreibung des Hausmeisters eines Krankenhauses zeigen. [2] Darin stehen so wenig spektakuläre Dinge wie Bodenwischen, Kehren, Staubsaugen, Mülleimerleeren usw., meist versehen mit genauen Checklisten. Für den Außenstehenden ist vielleicht ein wenig überraschend, wie viele Punkte zu erfüllen sind, aber nicht, welche. Das Einzige, was auffällt, ist: Obwohl es eine sehr lange Liste ist, bezieht sich kein einziger Punkt auf andere Menschen. Die Liste könnte genauso für einen Hausmeister in einer Leichenhalle gelten wie für einen in einem Krankenhaus.
Als Psychologen eine Befragung der Angestellten des Krankenhauses durchführten, um ein besseres Verständnis für deren Arbeit zu bekommen, trafen sie auf Mario, den Krankenhaus-Hausmeister. Er erzählte ihnen, wie er das Bodenwischen unterbrach, als ein älterer Patient, der nach einer Operation wieder seine Beine stärken wollte, langsam den Gang auf und ab ging. Hätte er den Boden nämlich wie vorgeschrieben blitzblank poliert, hätte es der Patient aus Angst, auf dem glatten Boden auszurutschen, nicht gewagt, sein Training zu machen. Mario munterte den Patienten mit ein paar freundlichen Worten auf, lobte seinen Willen und wischte den Gang erst am späten Nachmittag. Mira vom Reinigungspersonal erklärte den Psychologen, dass sie die Anweisung ihres Vorgesetzten, in einem Aufenthaltsraum den Staub zu saugen, ignorierte, weil sich dort Familienmitglieder eines schwer Verunglückten befanden, die gerade schliefen, da sie die ganze Nacht im Krankenhaus verbracht hatten. Und Viktor berichtete, dass er den Boden des Zimmers eines jungen Mannes ein zweites Mal wischte, weil dessen Vater, der seit sechs Wochen dort Nachtwache hielt, ihn nicht gesehen hatte, als er ihn das erste Mal gereinigt hatte und sich daher wütend bei ihm beschwerte. Nein, er stritt nicht mit dem Vater, er entschuldigte sich und machte seine Arbeit nochmals. Mario der Hausmeister, Mira und Viktor vom Reinigungspersonal verstanden, dass ihr Job sehr wenig mit Putzen und dem Erledigen von Checklisten zu tun hatte, sondern mit Menschen.
Natürlich sind nicht alle wie sie, können es gar nicht sein. Manchen ist es schon deshalb unmöglich, diese Leistung zu erbringen, weil sie als die Untersten in der Hierarchie nicht einmal unsere Sprache sprechen können. Aber jene, die erkannt haben, dass es genau um ihre Qualität der Freundlichkeit, der Fürsorge und des Einfühlungsvermögens geht, sind die Helden eines Spitals und leisten einen entscheidenden Beitrag dafür, dass wir uns dann ein bisschen besser fühlen, wenn es uns gerade sehr schlecht geht. Ihr Verhalten entscheidet oft darüber, ob alte und kranke Menschen zumindest ein schönes Erlebnis am Tag haben, von dem sie anderen erzählen können. So wie Lidia, die Heimhilfe meiner Mutter, die manchmal die knappen, genau festgelegten Minuten ihrer Pause dafür verwendet, mit ihr ein wenig in den Park zu gehen und zu plaudern.
65 Kilogramm im Durchschnitt, drei Mal täglich und das mal 13, machen 2535 Kilogramm oder 2,5 Tonnen,
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