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Meine letzte Stunde

Meine letzte Stunde

Titel: Meine letzte Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Salcher
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Lebendigkeit zu spüren.
    Der Gedanke an die letzte Stunde wäre unendlich wichtiger als die jährliche Feier der Geburt. Beim Geburtstag schauen wir zurück auf viele abgelaufene Stunden, die wir nicht mehr verändern können, bei der letzten Stunde schauen wir nach vorne auf all jene Stunden, die noch völlig jungfräulich vor uns liegen. Jeden Geburtstag zumindest einige Atemzüge innezuhalten, um an die Jahre, die vor uns liegen, zu denken, wäre vielleicht eine gar nicht so schlechte Idee.
    Spiel nicht mit dem Tod
    Das „Memento mori“, die bewusste Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit, ist ein behutsamer Weg – und im Gegensatz zur Konfrontation mit einer bösen Diagnose ein frei gewählter. Auch dieser Weg ist nicht frei von gefährlichen Verirrungen: dem Spielen mit dem Tod.
    Es gibt eine Szene im Buch „So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!“ von Christoph Schlingensief, die bei mir spontan so viel Unbehagen ausgelöst hat, dass ich es beim ersten Lesen gar nicht gewagt habe, sie mit dem Bleistift zu markieren, wie ich das sonst immer beim Lesen von Büchern tue. Die kurze Passage ließ mir aber keine Ruhe. Es geht darum, dass Schlingensief versucht zu rekonstruieren, wann der Krebs bei ihm ausgebrochen sei, und so fragt er seinen behandelnden Arzt danach. Dieser sagt ihm den Zeitpunkt, der, wie Schlingensief bereits geahnt hat, im Zeitraum seiner Wagner-Inszenierung in Bayreuth lag. Und dann fügt der sonst so sachliche Arzt noch einen Satz hinzu: „Ich habe voller Schrecken gelesen, dass Sie mal irgendwann gesagt haben sollen, nach Bayreuth bekämen Sie Krebs. Ich bin ja nicht abergläubisch, aber sagen Sie so was nie wieder. Sagen Sie so etwas niemals wieder!“ [3]
    Als Schlingensief über diese Zeit nachdenkt, wird ihm bewusst, dass er in Bayreuth tatsächlich mit der Todessehnsucht gespielt und dabei eine Grenze überschritten hat. So sei Wagners „Parsifal“ für ihn von der künstlerischen zur persönlichen Todesmusik geworden, die nicht das Leben, sondern das Sterben feiert. Und genau auf diesen Trip habe er sich schicken lassen. Er hätte dieses Tor niemals öffnen dürfen. Sätze wie: „Jetzt geht es um nichts anderes mehr, jetzt geht es um diese Sache und da wird gelitten und gestorben“, würde er nie wieder über die Lippen bringen.
    „Ich behaupte mal, jeder Mensch hat in sich selbst eine Schwelle, die er nicht übertreten sollte. Und bei jedem Menschen ist sie anders konstruiert. Der eine hat eine dicke Schicht, der andere hat eine dünne, bei dem einen ist sie höher, bei dem anderen niedriger. Wenn er anfängt, diese grundsätzliche Eigenart seiner Person durch irgendwelche Dinge zu belasten, seine Grundsätze aufzugeben – und damit meine ich nicht, morgens unpünktlich aufzustehen oder so einen Schwachsinn, nein, damit meine ich, sich selbst in seiner Eigenliebe nicht mehr wahrzunehmen –, dann kann es sein, dass irgendetwas passiert ist. Muss nicht, kann aber.“ [4]
    Natürlich ist sich Schlingensief bewusst, dass Krebs nie eindeutig einer Ursache zuordenbar ist. Was er intuitiv gespürt hat, ist ein sehr gefährlicher Bereich, der nichts mit Aberglauben zu tun hat, sondern mit der Macht der eigenen Gedanken. Dieses Beispiel erlaubt, auf den fundamentalen Unterschied zwischen dem Gedanken an seine letzte Stunde und der Todessehnsucht hinzuweisen. Die letzte Stunde ist ein Spiel mit dem Leben, Todessehnsucht ist ein gefährliches Spiel mit dem Tod. Larmoyanz bildet oft die Vorstufe zur Todessehnsucht, gegen die der kurze Kontakt mit seiner letzten Stunde ein äußerst wirksames Gegengift ist. Der Gedanke an die letzte Stunde ist das Gegenteil von Todessehnsucht, nämlich die Sehnsucht nach einem sinnerfüllten und erfahrungsreichen Leben immer wieder neu zu beleben. Das ist auch die wichtigste Botschaft von Schlingensief:
    „Am liebsten würde ich einfach allen, allen Menschen zurufen, wie toll es ist, auf der Erde zu sein. Was einem da genommen wird, wenn man gehen muss. Ich wünsche mir so sehr, dass die Leute begreifen, wie sehr es sich lohnt, sich um diese Erde zu kümmern.“ [5]
    Gedanken und Gefühle – wie man sich seiner letzten Stunde nähern kann
    So wie der Stabhochsprung im Zehnkampf der schwierigste Bewerb ist, so ist der Umgang mit seiner letzten Stunde im Leben die Königsdisziplin. Beides erfordert ständige Übung, um die Meisterschaft zu erreichen. Die Auseinandersetzung mit seiner letzten Stunde bringt Gedanken, die oft zu

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