Meine Mutter, die Gräfin
wie in Kopenhagen oder Frankfurt – sondern vielmehr ein bedrückender, leerer Raum. Man sah zwar Menschen, aber keine Reklame, keine Farben, keinerlei westlich-kapitalistisches und irgendeine »Normalität« suggerierendes Zeug, und die Einsamkeit war fast mit der Hand greifbar. Es war wie in einem Schwarz-Weiß-Film von Ingmar Bergman. Die gelbe, in der Mitte der Straße fahrende Straßenbahn brachte uns ein paar Haltestellen weiter zur Reginenstraße 14. Aha, da also lag das Haus, in dem Leni wohnte, das Haus, das Emilie und Fritz 1932 zu ihrem neuen Wohnsitz erkoren hatten. Ein Gebäude aus den frühen Zwanzigerjahren.
Als Leni, die uns schon den ganzen Tag über ungeduldig erwartet hat, die Tür öffnet und sagt: Na, da seid ihr ja endlich!, ist es für den Bruchteil einer Sekunde so, als würde ich das Gesicht meiner Mutter vor mir sehen.
Erst jetzt, 1983, finden Leni und ich zueinander. In diesem Moment wird irgendetwas Unbestimmtes zwischen uns beiden kleinen Schwestern geknüpft. Leni, die fast ihr ganzes Leben in Leipzig verbracht hat; behindert, weil ihr einer Arm durch Kinderlähmung um ein kleines Stück kürzer war. Leni, die immer so fürchterlich zu bedauern war, als ich klein war – die kleine Schwester meiner Mutter, die im ausgebombten Deutschland lebte und der wir jeden Monat ein Paket schickten: mit Kaffee, Nylonstrümpfen, Butter vielleicht. Wenn ich einen Anlass zum Weinen suchte, musste ich nur an unsere, ach, so arme Tante Leni in Deutschland denken, die der völlige Gegensatz zu unserer attraktiven, schillernden Mutter war, die immer in der Weltgeschichte umherreiste – nun gut, in unserer Vorstellung damals war Europa ja noch gleichbedeutend mit der ganzen Welt.
Was habe ich damals, 1983, noch gleich notiert, als ich in
dem großen Zimmer zwischen die noch vom Mangeln klammen Laken geschlüpft war?
»Leipzig, Reginenstraße. Abends 10-10.30 Uhr. Im Bett in der Bibliothek. Die große Büchervitrine (wie in der Königlichen Bibliothek von Stockholm). Platons gesammelte Werke, Shakespeare, Edgar Allan Poe, Goethe. Dumpfe, von der heruntergekommenen Straße heraufdringende Geräusche. Tante Leni sieht aus wie ein Vögelchen – wie ein ewig klein gebliebenes Mädchen mit ihrer hellgrauen Pagenkopffrisur. Lenis Freundin Ilse krank – im Bett. Zum Abendessen gekochter Blumenkohl, Kartoffeln und Schinkenwurst. Hab mich ausgeruht – ein bisschen geschlafen – Kopfschmerzen. Danach Spaziergang – verfallen, Vorkriegsstimmung, Sommerabend, Jasminsträucher.
Leni hat beim Abendessen – wir hätten ein Tonbandgerät mitnehmen müssen – von Mama erzählt: mit zwölf schon so schön, von Oma Emilie: wie wundervoll (wenn sie müde wurde, kam immer ihr französischer Akzent durch; das H fiel weg, wenn sie mit ihren Freundinnen aus der Schweiz telefonierte), ihr Lachen.«
Und dann kommt etwas über Fritz:
»Über ›Opa‹ (wie sie ihren Vater nennt), diesen unruhigen Geist, mit all seinen Projekten, seinen ganzen Reisen, Ausstellungen; Freiwilliger im Ersten Weltkrieg, als Journalist (?) an Typhus erkrankt.
Über die Bukowina, Rumänien – ihr kleinbürgerliches Leben. Über diese Eltern – Oma und Opa also –, ihre Andersartigkeit, ihr Talent. Über die kommunistische Literatur, die Opa verkaufte – kam ins Gefängnis? Das Wann und Wo klären. Der Verfall. Heute. Immerzu anstehen, fürs Fleisch. Nichts als Blumenkohl.
Die deutsche Sprache ermüdet mich wahnsinnig.«
Opa . War er das wirklich? Mir fällt es schwer, dieses Wort in den Mund zu nehmen: Fritz Schledt, der Buchhändler, mein »Opa«. Kam ins Gefängnis, steht da. Damals haben wir nicht weiter nachgefragt, ja, wir haben eigentlich gar nichts gefragt. Das war bestimmt wegen der kommunistischen Literatur, die er verkauft hat, haben wir wahrscheinlich gedacht.
Ein weiteres Puzzleteilchen, das uns Aufschluss über das Leben unserer Mutter gab, fügte ich selbst hinzu, als ich auf derselben Reise Notizen auf einen Zettel kritzelte, die ich etwas albern »Skizzen einer Familiengeschichte« genannt habe. Und da lese ich: »Der Krieg – F krank – Foto aus dem Krankenhaus – zieht alle Blicke auf sich. Die Kinder – Leni krank, 5 Jahre – Fritz, der sie um den Tisch jagt – Lenis Gesichtszüge versteinern sich in der Küche in Leipzig.«
Als wir Leni das nächste Mal wiedertrafen, war das im Herbst 1989 in Stockholm, wohin sie gereist war, um dort mit uns drei Geschwistern – Sven, Eili und mir, ihren
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