Meine Mutter, die Gräfin
engsten, und doch so fremden Verwandten also – ihren 80. Geburtstag zu feiern. Leni wirkte damals schon müde und legte sich in meiner kleinen Wohnung in der Alströmergatan häufig auf mein Bett, um sich auszuruhen.
Und woran erinnere ich mich? Dass sie von Fritz erzählt. Dass er sie um den Tisch jagt. Aber jetzt schwingt da auch noch etwas anderes mit, als sei es da auch noch um etwas anderes gegangen als nur um einen gewöhnlichen, strengen deutschen Vater, der seine kleinen Kinder um den Tisch jagt, um Schläge auszuteilen. Jetzt will er etwas anderes von ihr, etwas, gegen das sie sich zur Wehr setzt – verzweifelt. Ihr gelingt es doch, sich zu wehren – oder? Dieser kleine, zarte Körper. Bin jetzt vielleicht ich von allen guten Geistern verlassen? Ich suche in meinen Tagebüchern nach Aussagen, die das untermauern. Aber eigentlich weiß ich, dass das passiert ist, weil ich es damals Eili erzählt habe und Eili sich, wie ich, noch daran erinnert.
Ist Leni von allen guten Geistern verlassen worden? Ist es eine Art Freud'sche Fehlleistung? Verliebt in den eigenen Vater? Nein. Aber vielleicht ist sie schon zu alt, um sich noch gegen den Ansturm ihrer in sich verschlossenen Geheimnisse zur Wehr setzen zu können? Liegt da auf mein Bett hingestreckt und vertraut sich mir – zu der sie so eine Zuneigung gefasst hat – einfach an. Raus damit!
Vier Jahre später – 1993 –, als ich an ihrer Bettkante im Seniorenwohnheim in Hamburg saß, das sie zu ihrer letzten Zufluchtsstätte auserkoren hatte, unterhielten wir uns erneut über ihr Leben und welche Entwicklung es genommen hatte. Ich glaube, dass ich mich dieser Sache mit dem Um-den-Tisch-Jagen nicht genügend gewachsen fühlte, um sie erneut anzuschneiden, hatte das anscheinend »vergessen« – das scheint mir immer wieder zu passieren –, und so fragte ich sie stattdessen, weshalb sie damals überhaupt von Radautz nach Leipzig gezogen waren – das zumindest habe ich sie gefragt.
»Er wurde ausgewiesen«, erwidert sie.
»Aber warum?«, bohre ich nach.
Nein, darauf will sie nicht antworten. Und dann – und ich glaube sie wirft tatsächlich den Kopf in den Nacken –, dann sagt sie es doch: Er sei beschuldigt worden, sich an Kindern vergriffen zu haben, und sei daraufhin verhaftet worden. Und sie seien aus dem Land gejagt worden – ihr ganzes Leben sei dahin gewesen, sie hätten nur eine kleine Auswahl an Büchern und Möbeln mitnehmen können.
Der Fritz . Das muss natürlich nicht heißen, dass sich das so zugetragen hatte. Es konnte sich ja auch um eine Falschanzeige gehandelt haben, um sich seiner zu entledigen. Von böswilligen Zeitgenossen. Böse Zungen.
Aber – wenn es nun stimmte? Er hatte es schließlich bei Leni versucht? Ich muss ihr doch wohl Glauben schenken,
das bin ich ihr schuldig; sie hat mir das damals schließlich nicht ohne Grund erzählt. Weshalb? Und Mama? Was war mit der schönen Lottie?
Es ist, als ob ein Schatten auf meine ganzen Unterlagen, Fotos und die Geschichten, die in anderen Geschichten enthalten sind, fällt. Er schwebt die ganze Zeit über mir. Was kann ich tun? Was wissen? Selbst wenn meine Mutter noch gelebt hätte, hätte ich sie nicht danach gefragt, das weiß ich. Ich habe mich ja noch nicht einmal bei Leni danach erkundigt, ob sie glaubte (oder wüsste), ob er – der Opa – auch bei ihrer großen Schwester einen Annäherungsversuch unternommen hatte. Vielleicht war das ja doch nur pure Erfindung von ihr, denke ich.
Aber was – geht mir dann durch den Kopf –, was, wenn es so war: Wenn sie ihrem Vater nicht verzeihen konnte, dass er schuld daran war, dass sie Radautz den Rücken kehren mussten, schuld daran, dass sie Haus und Garten, die Buchhandlung, ihre Freunde und ihr Ansehen verloren und sich stattdessen in Leipzig in der Armut – ja, fast in der Hungersnot – wiederfanden? Im sozialen Abstieg, zwischen Krieg und Elend, was auch zu Emilies Tod beitrug – was, wenn es so gewesen ist? Und sie die in Radautz gegen ihn erhobenen Beschuldigungen unablässig gedanklich durchspielt, bis sie darüber zu fantasieren begonnen hat, dass es sich tatsächlich so abgespielt hat – für sie war er schuldig, auch wenn Emilie nie auch nur einen Augenblick in Betracht gezogen hatte, dass an der Geschichte etwas Wahres dran sein könnte.
Emilie nicht – aber Leni. Leni, die unentwegt darüber nachdenkt. Leni, die versucht, sich daran zu erinnern, sich so vielleicht eine Erinnerung rekonstruiert, in der er –
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